Umgang mit Gaffern:"Das Leid anderer zu filmen, ist krank"

Gaffer behindern bei Unfällen die Arbeit der Retter, manche Täter kalkulieren sogar passive Zuschauer mit ein. Politiker fordern deshalb eine Schocktherapie.

Claudia Fromme

Manchmal, so kommt es Ludwig Geiger vor, blickt er im Dienst auf eine Wand. Auf eine Wand aus Handykameras. Eine Karambolage auf der Autobahn, ein Brand in einer Wohnsiedlung, ein Auto prallt gegen ein Haus - bevor der Notarzt eintrifft, leuchten schon die Handys. Nicht immer kommt das vor, aber durchaus so oft, dass es Geiger auffällt. Als 16-Jähriger kam er zur Freiwilligen Feuerwehr, und heute, 40 Jahre später, ist er in Gera Branddirektor und Vizepräsident des Deutschen Feuerwehrverbandes. "Das Leid anderer anzuschauen ohne Not, es zu filmen, das ist krank", sagt er.

Umgang mit Gaffern: Neugier ist angeboren - doch bei Unfällen wie hier auf der A 96 bei Auenhofen können Schaulustige zum Problem werden.

Neugier ist angeboren - doch bei Unfällen wie hier auf der A 96 bei Auenhofen können Schaulustige zum Problem werden.

(Foto: Foto: ddp)

Geiger nennt sie Gaffer.Schaulustige, Zuschauer, Katastrophentouristen. Man kann nicht alle Beobachter eines Unfalls in einen Begriff pressen, im Stau auf der Autobahn wird man unfreiwillig Zeuge. Aber solche Orte extra anzusteuern? Oder zu filmen? Vor zwei Wochen raste ein Betrunkener auf der A1 bei Hamburg nachts frontal in das Auto einer Frau, es fing sofort Feuer. Ein Lübecker Berufsfeuerwehrmann war zufällig als Erster am Unfallort. Verzweifelt versuchte er mit einem Freund, die 22-Jährige zu befreien, sie baten andere Fahrer um Taschenmesser und Feuerlöscher. Keiner half. Die Lasterfahrer, die Löscher an Bord haben müssen, standen da und guckten. Die Frau starb kurz darauf im Krankenhaus.

Klaus Schlie (CDU) macht der Vorfall wütend. "An einer Unfallstelle läuft kein Film ab, das ist harte Realität", sagt Schleswig-Holsteins Innenminister. Seit Mittwoch tagt die Innenministerkonferenz in Bremen, und Schlie will dort das Thema mit seinen Kollegen besprechen. Er fordert einen härteren Kurs gegen Gaffer, eine konsequentere Verfolgung - und Aufklärung. Vielleicht müsse man unkonventionelle Wege gehen, schon in Fahrschulen Unfallfotos zeigen, als Schocktherapie, so Schlie. Er hat eine Arbeitsgruppe mit Polizisten, Feuerwehrleuten und Psychologen einberufen.

Die Innenminister Niedersachsens und Bayerns begrüßen Schlies Vorstoß, auch, weil der Hamburger Fall nicht der erste ist, in dem es Zeugen an Zivilcourage mangelt. Es gibt Fälle, bei denen Gaffer Retter behindern, Autos nicht wegparken, oder gar Feuerwehrschläuche zerschneiden, wie in Berlin geschehen; ein Haus ist so komplett abgebrannt. Die Kieler Feuerwehr berichtet von einem Mann, der sich weigerte, den Unfallort zu verlassen, er zahle schließlich Kurtaxe.

Die Masse als Problem

"Gaffen wird ein immer größeres Problem für die Rettungskräfte und die Polizei", sagt Konrad Freiberg, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. Und Feuerwehrmann Geiger fragt sich, ob die Bilderflut mit dafür verantwortlich ist. Die Gaffervideos, aber auch die Fernsehbilder. Viele TV-Nachmittagsmagazine zeigten minutenlang nur Unfälle. Dass auch Feuerwehrleute Privatvideos von Einsätzen ins Internet stellen, sieht er kritisch. Sensationsmache ist ihnen aber wohl nicht zu unterstellen. "Da sehen alle endlich mal, was für einen Job wir machen", schreibt ein Feuerwehrmann im Netz.

Neugier ist keine Erfindung des Medienzeitalters, Unglücke haben Menschen schon immer angezogen. Problematisch wird der Zuschauer in der Masse. Steht eine Gruppe an einer Unfallstelle, fühlt sich keiner angesprochen. Opfer wie Helfer kennen das Phänomen. "Es nützt nichts, eine Zuschauermenge per Megaphon aufzufordern, sich zu entfernen", sagt Harald Fiedler von der Polizeihochschule Villingen-Schwenningen. "Erst wenn ein Zuschauer einzeln angesprochen wird, fühlt er sich in die Verantwortung genommen." Meist helfe das, aber nicht immer, sagt Fiedler. Manche seien regelrecht im Bann der Katastrophe.

Das reine Zuschauen unter Strafandrohung zu stellen, hält Psychologieprofessor Fiedler für kontraproduktiv. "Dann würde man der sonst sehr erwünschten Kultur des Hinsehens das Wasser abgraben. Es würde weniger Ersthelfer geben, wenn sich Menschen nicht für Notsituationen anderer interessieren dürften", sagt er. Aber die von Innenminister Schlie angeführte Schocktherapie könne wirksam sein, wenn sie in Maßen angewendet wird, glaubt Fiedler. In Experimenten fand er heraus, dass gemäßigte Videoszenen eines Unfalls zu einer gesteigerten Hilfsbereitschaft führen. Beim Anschauen extremer Gräuelbilder passiere das Gegenteil. Stress lähmt das Mitgefühl.

Juristische Folgen der Passivität

Juristisch ist der Fall bei passiven Gaffern klar, es handelt sich um unterlassene Hilfeleistung, die mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden kann. Doch wer will das verfolgen? "Wenn ein Notruf kommt, sind Gaffer die Letzten, um die wir uns kümmern können", sagt Ludwig Geiger vom Feuerwehrverband. Die Rettung der Opfer und die Sicherung der Unfallstelle sei wichtiger. Der Polizei fehlt es oft an Zeit und Personal, Beweise für die unterlassene Hilfe zu sichern.

Täter rechnen mit Tatenlosigkeit

Einen "zahnlosen Tiger" nennt Hans-Dieter Schwind den Paragraphen, der ohnehin kaum zur Anwendung komme. "Jeder, der sich einen Anwalt nimmt, kann den Paragraphen ausnutzen", sagt der Kriminologe, der an der Ruhr-Universität Bochum zu Gaffern geforscht hat und Vorstandsmitglied der Opferschutzvereinigung "Weißer Ring" ist. Dass jemand vorsätzlich nicht geholfen hat, sei kaum zu beweisen, sagt Schwind und erinnert an den Fall der drei Jungen, die 1989 im Olympiasee in München im Eis einbrachen und ertranken. Keiner der 20 Schaulustigen hatte sich damals ins Wasser getraut, obwohl der See nur 1,10 Meter tief ist. Es gab Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung, verurteilt wurde keiner.

Die Gründe, nicht zu helfen, sind ganz unterschiedlich, sagt Schwind. Eine uneindeutige Lage, eine Schockstarre, keine Opfersignale - oder die Angst, das Falsche zu tun. "Jeder Mensch kann Opfer werden", sagt Schwind, vielen sei das nicht bewusst. Was das bedeutet, erfuhr er aus seinem direkten Umfeld. Ein psychisch gestörter Täter stach eine seiner Mitarbeiterinnen mittags im Parkhaus der Ruhr-Universität in Bochum nieder. Die Schreie der Frau nahm keiner ernst, sie verblutete.

Was ihm bei seinen Studien aber am meisten auffiel, war, dass Täter die Passivität der Mitmenschen mit einkalkulierten. Das sei in den vergangenen Jahren schlimmer geworden. "Täter rechnen nicht mehr damit, dass jemand hilft." Das sei eine neue Dimension, die einem wirklich Angst machen müsse.

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