Süddeutsche Zeitung

Umgang mit Demenzkranken:"Ich bitte um Verständnis"

Weil Gerd Müller Alzheimer hat, will ihm die Familie zum 70. Geburtstag keine Öffentlichkeit zumuten. Auch Demenzkranke sollten sich feiern lassen, sagt dagegen der Angehörigenberater Hans-Dieter Mückschel.

Von Violetta Simon

Gerd Müller, "Bomber der Nation", war einer der größten Fußballer aller Zeiten. Am 3. November wird der ehemalige Mittelstürmer des FC Bayern 70 Jahre alt. Doch zu seinem Geburtstag wird es keine offiziellen Termine und Feierlichkeiten geben. Wie der Verein bekannt gab, leidet Gerd Müller an der Alzheimer-Erkrankung und wird seit Februar in einem Pflegeheim betreut. Seine Familie will ihn vor der Öffentlichkeit schützen. Aber müsste man der Öffentlichkeit nicht viel mehr Kontakt mit Betroffenen zumuten? Der Angehörigenberater Hans-Dieter Mückschel, Vorstand der Alzheimer-Gesellschaft Mittelfranken, fordert mehr Teilhabe für Demenzkranke.

SZ: Rudi Assauer ging mit seiner Alzheimer-Erkrankung relativ früh an die Öffentlichkeit. Sollten alle Betroffenen so offensiv mit ihrer Erkrankung umgehen?

Hans-Dieter Mückschel: Egal, ob man damit an die Öffentlichkeit geht oder nicht: Ein offener Umgang mit der Krankheit ist ganz klar der beste Weg. Und zwar so früh wie möglich. Nur wenn ich die Demenz anerkenne, habe ich die Chance, das Fortschreiten zu verhindern und die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Alltag für den Betroffenen besser zu gestalten. Die Mehrheit stellt sich der Situation leider erst, wenn der Krankheitsprozess fortgeschritten ist.

Gerd Müllers Familie machte seine Alzheimer-Krankheit erst bekannt, als er es selbst nicht mehr konnte. Zu seinem 70. Geburtstag wird es keine offiziellen Besuche oder Termine geben. Eine angemessene Schutzmaßnahme?

Ein Mensch wie Gerd Müller hat eine Biografie, er ist noch immer der berühmte Fußballer - auch wenn er selbst es nicht mehr weiß. Ich glaube nicht, dass man den Betroffenen um jeden Preis vor seinem Umfeld schützen muss. Wann immer es möglich ist, sollte man ihm vielmehr die Chance geben, weiterhin als wertvoller Mensch wahrgenommen zu werden - und sich zum Beispiel bei offiziellen Anlässen feiern zu lassen. Hier müssen die Angehörigen einschätzen, welche Art von Öffentlichkeit wünschenswert ist und was man dem Erkrankten besser erspart.

Warum ist das wichtig, wenn der Betroffene es selbst nicht mehr weiß?

Man ist nur überlebensfähig, wenn man noch einen Sinn in seinem Leben sieht. Wenn das wegfällt, kommt das einem sozialen Todesurteil gleich, das gilt auch für Demenzerkrankte. Mit dem Gedächtnis verlieren die Betroffenen ihre Persönlichkeit, heißt es in der Medizin. Wir von der Angehörigenberatung sehen das eher vom ethischen Aspekt her: Das, was wir als Seele bezeichnen, bleibt. Die Persönlichkeit ist noch da, der Kranke kann sie nur nicht nach außen tragen. Die eigentliche Kunst besteht darin, den Kranken zu schützen - und seine Persönlichkeit weiterhin zu respektieren. Das ist natürlich nicht immer leicht, doch wäre Entmündigung der falsche Weg. Entscheidend ist ein sensibler und wertschätzender Umgang, das verändert die Kommunikation total.

Wie kann der Betroffene artikulieren, ob er weiterhin in der Öffentlichkeit stehen möchte - beispielsweise eine Ehrung entgegennehmen oder an einer Feierlichkeit teilnehmen?

Der Ehepartner oder die Familie kann nur durch empathische Beobachtung spüren, ob dieser Mensch noch teilnehmen will am Alltag. Entscheidend ist auch der sensible Umgang mit der konkreten Situation. Menschen mit Demenz leben in der Regel im Hier und Jetzt. Es kann also durchaus sein, dass ein Betroffener eine Veranstaltung mittendrin verlassen muss. Das ist möglicherweise unangenehm für die Beteiligten, doch für den Kranken ist es das Beste.

Teilnahme am Leben: Inwiefern ist das für Alzheimer-Patienten möglich?

Theoretisch überall, wo Menschen zusammenkommen. Wir haben zum Beispiel einen Chor, an dem auch Demenzerkrankte teilnehmen. Da fällt es gar nicht auf, dass viele von ihnen nicht mehr lesen können, sie singen teilweise noch besser als manche Angehörige. Hier wird deutlich, welche Kompetenzen noch vorhanden sind. Menschen mit Demenz sind nicht unglücklich, sie haben Freude an vielen Dingen. Sich einfach glücklich fühlen - das können sie oft besser als andere.

Demenz-Patienten sieht man ihre Krankheit nicht an. Wie kann ich andere dafür sensibilisieren, warum meine Begleitung sich weigert, die U-Bahn zu betreten, oder im Restaurant mit den Fingern isst?

Man kann es offen ansprechen und erklären. Es gibt aber auch die Möglichkeit, vorgedruckte Karten auszuteilen, die man bei Alzheimer-Organisationen erhält. Auf denen steht eine entsprechende Erklärung wie zum Beispiel: "Ich bitte um Verständnis! Mein Angehöriger ist an einer Demenz erkrankt und verhält sich deshalb ungewöhnlich." Wenn sie Bescheid wissen, sind Menschen eher dazu bereit, dem Kranken mit Geduld zu begegnen.

Wie können Außenstehende mit Betroffenen richtig umgehen?

Im Grunde sollten wir nach Normalisierung streben. Menschen im Rollstuhl werden auch nicht als Fremdkörper angesehen, man nimmt Rücksicht und passt die Umwelt zunehmend an ihre Bedürfnisse an. Dasselbe wünschen wir uns für Demenz-Patienten: dass sie ein Recht haben auf Teilhabe, dass sie mitgehen können auf ein Fest oder ins Café. Und wenn die Tasse umfällt, ist es kein Drama. Man sieht darüber hinweg, genau wie bei Kindern. Es sollte selbstverständlich werden, dass Angehörige auf Solidarität zählen oder um Hilfe bitten können, ohne schief angeschaut zu werden. Zum Beispiel, wenn ein Mann einen weiblichen Gast im Lokal darum bittet, seine demenzkranke Frau auf die Damentoilette zu begleiten.

Es muss sich also auch gesellschaftlich etwas tun im Umgang mit Demenzkranken?

Im Vergleich zu anderen Regionen wie etwa dem angelsächsischen Raum oder Skandinavien herrscht in Deutschland noch immer eine starke Tabuisierung. In der Regel werden erste Anzeichen heruntergespielt, oder der Betroffene versucht, sie zu verbergen. Doch die Zahl der Betroffenen wird weiter ansteigen. Neben dem Aspekt der Versorgung ist daher die Frage, wie wir mit Demenz umgehen, die wichtigste. Andernfalls werden die Angehörigen ausbrennen - deren Zahl im Übrigen kontinuierlich zurückgeht. Wir werden aus demografischen Gründen immer mehr alleinstehende Demente haben. Umso wichtiger ist es, dass nicht nur Angehörige bereit sind, einem Erkrankten ohne Vorbehalte zu begegnen. Sondern jeder Einzelne.

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Quelle:
SZ vom 09.10.2015
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