Süddeutsche Zeitung

Umfrage:Gewalt in der Pflege ist weit verbreitet

  • Gewalt gegen Alte und Kranke hat vielerorts offenbar System, das zeigt eine neue Umfrage des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP).
  • Mehr als die Hälfte (58 Prozent) der etwa 1000 befragten Mitarbeiter gab an, dass das Personal über den Willen der Pflegebedürftigen hinweg handele.
  • Knapp jeder Zweite wurde schon einmal Zeuge, dass notwendige Hilfe nicht oder viel zu spät gegeben wurde.

Von Kim Björn Becker

Der Tag, der für Sonja Ewertsen alles verändert hat, liegt nun vier Monate zurück. An diesem Tag im September war die 52-jährige Ewertsen, die in Wahrheit anders heißt, als Betreuerin in einem Münchner Seniorenheim im Einsatz und setzte sich, wie jeden Vormittag, zu einer 96-jährigen Bewohnerin ins Zimmer. Sie beschreibt die demente Dame als fast immer fröhlich, doch an diesem Tag, sagt Ewertsen, lag Angst auf ihren Zügen.

Kurz zuvor sei eine andere Pflegerin im Zimmer gewesen. Beim morgendlichen Waschen habe sie die Seniorin erst grob am Handgelenk gepackt und ihr dann drei Mal mit dem Waschlappen ins Gesicht geschlagen. Die alte Dame deutete auf ihre Wangen: Erst rechts, dann links und dann wieder rechts. "Ich wusste nicht, ob ich weinen oder schreien sollte", sagt Ewertsen.

Ein Einzelfall? Wohl kaum. Gewalt in der Altenpflege ist ein Tabu-Thema. Wenn doch jemand darüber spricht, dann offenbaren sich Abgründe. Wer das Personal zu oft behelligt, bekommt die Klingel weggenommen. Wer nicht essen will, wird dazu gezwungen. Und wer beim Anziehen nicht kooperiert, den stellt man mit dem Rollstuhl in eine dunkle Ecke, zieht die Bremse an und verlässt den Raum.

Gewalt in der Pflege ist oft subtil - weil es bei Gewalt fast immer um Macht geht und man Menschen, die für fast alles Hilfe brauchen, spüren lassen kann, wer das Sagen hat. Wenn ein Bewohner zum Beispiel darum bittet, auf die Toilette begleitet zu werden, sagten manche Pfleger: Sie tragen doch eine Windel. "Einfacher kann man jemanden nicht demütigen", sagt Ewertsen.

Keine klare Grenze zwischen ruppigem Verhalten und Gewalt

Dass Gewalt gegen Alte und Kranke vielerorts offenbar System hat, zeigt eine neue Umfrage des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) unter Mitarbeitern von Pflegeheimen und ambulanten Diensten. Demnach berichtet jeder dritte Befragte, dass die Rechte der Betroffenen missachtet werden - und zwar regelmäßig. Mehr als die Hälfte (58 Prozent) der etwa 1000 befragten Mitarbeiter gab an, dass das Personal über den Willen der Pflegebedürftigen hinweg handele.

Knapp jeder Zweite wurde schon einmal Zeuge, dass notwendige Hilfe nicht oder viel zu spät gegeben wurde. 39 Prozent erlebten, dass die Privatsphäre missachtet wurde, und 36 Prozent haben mitbekommen, wie Alte und Kranke aggressiv angesprochen oder gar beschämt wurden. "Das Recht auf gute Pflege ist in der Praxis längst nicht überall durchgesetzt", rügt ZQP-Chef Ralf Suhr. Daran ändere auch die jüngste Pflegereform nichts.

Das Problem ist vielschichtig, auch deshalb ist es offenbar so schwer in den Griff zu bekommen. Da gibt es zum einen keine klare Grenze zwischen ruppigem Verhalten und Gewalt, der Übergang ist fließend. "Problematisch ist all das, was das psychische und physische Wohl des Pflegebedürftigen in einer prinzipiell vermeidbaren Weise beeinträchtigt", stellt Thomas Görgen klar. Der Kriminologe lehrt als Professor an der Polizeihochschule in Münster und hat sich auf Missstände in der Pflege spezialisiert.

Doch selbst wenn es in einem Pflegeheim zu einem Übergriff kommt, der weit jenseits des Zumutbaren ist, werden viele Vorfälle meist gar nicht erst bekannt. "Polizei und Justiz müssen zunächst einmal von einem Vorkommnis erfahren - und Pflegebedürftige werden selten Anzeige erstatten und können das oft auch gar nicht mehr", sagt Görgen. Hinzu kommen häufig Nachweisprobleme. Wenn ein Pfleger mit einem Bewohner allein im Zimmer ist, gibt es keine Zeugen. Und wie glaubwürdig ist die Aussage eines Demenzkranken, der seinem Pfleger solch schwerwiegende Vorwürfe macht?

Bleiben noch die Kollegen, die sich bei Gewalttaten für die Schutzbedürftigen einsetzen könnten - so wie Sonja Ewertsen, die die alte Dame in eine andere Gruppe brachte und den Vorfall der Heimleitung meldete. "Das ist eine große Ausnahme", sagt der Münchner Sozialarbeiter und Pflege-Experte Claus Fussek. Immer wieder meldeten sich Pfleger bei ihm, wenn sie selbst Hilfe benötigen - und viele berichten ihm, dass in den Heimen der Republik ein "Klima der Angst" herrsche, wie Fussek sagt. "Schweigen, wegsehen, mitmachen, so läuft das."

Fussek sieht in der chronischen Überlastung des Pflegepersonals den Hauptgrund dafür, dass manche von Zeit zu Zeit die Fassung verlieren. "Das soll derlei Taten keineswegs entschuldigen. Aber das Problem wird nicht besser, wenn die Heime nicht endlich anfangen, mehr Personal einzustellen", sagt Fussek. Das sieht auch Ewertsen so: "Die meisten von uns sind stolz auf ihre Arbeit oder sie waren es zumindest einmal." Wenn aber Körper und Seele fortwährend ausgezehrt werden, breche früher oder später jeder zusammen. "Manche fressen es in sich hinein und bekommen Depressionen. Andere lassen es raus und überschreiten jede Grenze."

Freiwillig stellen Pflegeheime wohl selten deutlich mehr Personal ein, als sie müssen. Wie groß die Mindestbesetzung ist, legt der Personalschlüssel in jedem Bundesland fest. Nach dem Willen von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sollen die Schlüssel eines Tages bundesweit einheitlich sein. Doch das wird dauern: Bis zum Jahr 2020 entwickeln Fachleute im Auftrag der Bundesregierung ein neues Verfahren zur Personalbemessung. Wie es aussieht, was es bringt und wann es kommt - heute noch völlig offen.

Der Kriminologe Thomas Görgen warnt derweil davor, jeden Pfleger, der sich mal im Ton vergreift, gleich zu kriminalisieren. "Wenn es um brutale Gewalt und das bewusste Ausnutzen der Wehrlosigkeit geht, dann sind Polizei und Justiz natürlich gefragt." Aber wenn man es mit Pflegern zu tun habe, denen die Dinge über den Kopf wachsen und die deshalb zum Beispiel gelegentlich Pflegebedürftige anschreien, dann "müssten wir eher schauen, ob es passende Hilfen gibt". Sonja Ewertsens Beschwerde über die rüde Kollegin sei von der Heimleitung nicht weiter beachtet worden, sagt sie. Sie hat daraus ihre persönliche Konsequenz gezogen. Und gekündigt.

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SZ vom 17.01.2017/dit
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