Berlin, U-Bahnhof Schönleinstraße, gegen 2 Uhr in der Heiligen Nacht: Mehrere junge Männer versuchen, einen schlafenden Obdachlosen anzuzünden. Seine Kleidung brennt bereits, als Passanten einschreiten und dem Opfer das Leben retten.
Den raschen Durchbruch bei den Ermittlungen bringen Bilder einer Überwachungskamera, nach deren Veröffentlichung sich sechs der sieben mutmaßlichen Täter stellen. Solche Bilder hätten sich viele Ermittler auch im Zusammenhang mit dem Terroranschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember gewünscht. Hätten sie so doch womöglich früher Ansatzpunkte dafür gehabt, dass der Tunesier Anis Amri der mutmaßliche Täter war.
Doch im Unterschied zu Berliner U-Bahnhöfen sind öffentliche Plätze wie der Breitscheidplatz, wo der Attentäter mit einem Lastwagen in den Markt raste und zwölf Menschen tötete, nicht mit Kameras überwacht.
Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt:Anis Amri, Terrorist und Bruder
Sie erinnern sich an an einen saufenden, kiffenden, prügelnden Bruder. Geliebt haben sie ihn trotzdem. Unterwegs in Tunesien mit Geschwistern des mutmaßlichen Mörders von Berlin.
In Berlin gibt es 15 000 Kameras
London gilt mit mehr als zwei Millionen Kameras als eine der am besten überwachten Städte der Welt. Es ist nicht genau bekannt, wie viele Kameras insgesamt im öffentlichen Raum in Deutschland montiert sind, aber es gibt einzelne Zahlen: Alleine in Berlin sind derzeit etwa 15 000 Kameras aktiv, 2012 waren es noch 11 700. Im flächenmäßig viel größeren aber auch dünner besidelten Bayern waren Ende 2012 mehr als 17 000 Kameras aktiv. Und die Deutsche Bahn nutzt mehr als 5 000 Kameras auf 700 Bahnhöfen und 27 000 Kameras in Regional- sowie S-Bahnen. Dazu kommen Tausende Kameras, die von Privatpersonen oder Firmen aufgestellt und betrieben werden.
60 Prozent der Deutschen fordern mehr Videoüberwachung
Vor allem aus CSU und AfD, aber selbst aus Teilen der SPD kommen angesichts der Ereignisse der vergangenen Wochen Forderungen, öffentliche Straßen und Plätze besser elektronisch zu überwachen. Doch können mehr Kameras mehr Sicherheit bringen? Und rechtfertigt dies einen derartigen Eingriff in Grundrechte eines jeden Bürgers?
Für die Bevölkerung in Deutschland scheint die Sache klar zu sein: Eine Mehrheit von 60 Prozent ist für mehr Videoüberwachung öffentlicher Räume, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov ergab. Datenschützer, aber auch Vertreter von Justiz und Polizei sehen das weit skeptischer.
"Mehr Videoüberwachung führt nicht automatisch zu mehr Sicherheit"
"Es würden ganz überwiegend Personen überwacht, die selbst keinen Anlass dafür geben", sagte der Chef des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa. Die Bilder könnten vielfältig ausgewertet, bearbeitet und mit anderen Informationen verknüpft werden. "So könnten beispielsweise mit Hilfe von Gesichtserkennungssoftware Bewegungsprofile erstellt werden. Dies alles würde beim Bürger das diffuse Gefühl einer permanenten Überwachung und damit eine starke Beeinträchtigung der Lebensqualität hervorrufen", sagt Gnisa, der auch Direktor des Amtsgerichts Bielefeld ist.
Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin glaubt nicht, dass sich Terroristen und unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stehende Einzeltäter von Videoüberwachung an Straftaten hindern lassen: "Kameras werden niemanden von Straftaten abhalten." Ähnlich argumentiert auch Berlins Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk: "Mehr Videoüberwachung führt nicht automatisch zu mehr Sicherheit."
Videoüberwachung helfe nur bei der Repression, so Jendro, also um die Straftat besser bewerten zu können und eventuelles Beweismaterial vor Gericht zu haben.
"Wir wollen keinen Überwachungsstaat, keine flächendeckende Videoüberwachung. Natürlich können Überwachungsbilder bei Ermittlungen helfen. Aber viel wichtiger wäre es, mehr Polizei auf den Straßen zu haben. Denn viel mehr als Videoüberwachung schrecken Polizisten potenzielle Straftäter ab", sagte Jendro. Positiv bewertet der Polizeigewerkschafter, dass durch die immer bessere Qualität der Videoaufnahmen öffentlich nach Tätern gefahndet werden kann. "Indem die Öffentlichkeit einbezogen wird, wird ein enormer Druck auf die Täter aufgebaut. Im aktuellen Fall hat sich das bereits gezeigt: Sechs der sieben Männer haben sich freiwillig gestellt."
Die beiden britischen Forscher Brandon Welsh und David Farrington haben 2003 und 2004 überprüft, inwiefern sich Videoüberwachung abschreckend auswirkt. Lediglich Autodiebstähle in Parkhäusern gingen dadurch zurück, gegen Gewalt in Stadtzentren oder der U-Bahn konnten die Kameras nichts ausrichten. Für Deutschland gibt es keine eindeutigen Aussagen zur Wirksamkeit von Videoüberwachung. Es gibt auch nur wenige Studien dazu, ob Kameras überhaupt Einfluss auf die Kriminalität haben. Und Selbstmordattentätern, die zurzeit als eine der größten Gefahren wahrgenommen werden, sind Videokameras aus nachvollziehbaren Gründen egal. Sie verhelfen ihnen und ihren Taten nur zu noch mehr Aufmerksamkeit.
Die Bundesregierung will trotzdem stärker observieren lassen. Der Beschluss mit dem typisch deutschen Namen Videoüberwachungsverbesserungsgesetz vom 21. Dezember soll es beispielsweise Betreibern von Einkaufszentren oder Sportstätten ermöglichen, Überwachungskameras unter geringeren Auflagen zu installieren. Das Gesetz ist keine direkte Reaktion auf den Anschlag in Berlin, sondern ist schon seit den Vorfällen in München und Ansbach in Arbeit.
Im Land Berlin könnte sich die Debatte zu einer ernsten Belastungsprobe für Rot-Rot-Grün entwickeln. Denn das neue Regierungsbündnis hatte sich - auf Wunsch von Linken und Grünen - darauf verständigt, die Videoüberwachung nicht auszuweiten. Begründet wurde dies mit einem zweifelhaften Nutzen und der Einschränkung von Bürgerrechten. Doch nach dem Anschlag am Breitscheidplatz wächst der Druck. So fühlte sich Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) bemüßigt, dem Senat via Bild am Sonntag Ratschläge zu erteilen: Dieser müsse seine Haltung zur Videoüberwachung "dringend" überdenken.
Innensenator Andreas Geisel (SPD) bleibt bislang bei seiner Linie. Man wolle erst die Ermittlungen abwarten und dürfe jetzt nicht "aus dem Bauch heraus" Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen. "Der Anschlag wäre durch Videoüberwachung nicht verhindert worden", sagt der Senator. Aber: "Die Frage, die wir uns stellen, ist: Hätte Videoüberwachung dazu geführt, die Fahndung zu verbessern? Das ist eine Debatte, die wir führen müssen."
Überwachung fordert unbewusst die innere Zensur der Menschen
Als sicher gilt aber: Menschen verändern ihr Verhalten, wenn sie überwacht werden. Hinweise darauf, welche Auswirkungen Beobachtung hat, gibt zum Beispiel folgender Versuch: In einem Raum wird ein Foto aufgehängt, die darauf abgebildete Person wird den anwesenden Versuchsteilnehmern als Beobachter vorgestellt. Daraufhin veränderten die Teilnehmer ihr Verhalten. Sie handelten so, wie sie glaubten, dass es der Abgebildete für richtig hielt. "Sie passen ihr Verhalten viel stärker an als es nötig wäre", sagte Wissenschaftsethiker Tobias Matzner. Überwachung fordere unbewusst die innere Zensur.
Es lasse sich aber auch der gegenteilige Effekt beobachten: Wenn Menschen die Systeme überschätzen und sich deswegen unvorsichtiger als sonst verhalten. "Die denken, durch die Kameraüberwachung entsteht eine völlig sichere Welt", so der Experte. Dadurch gehe die natürlich Vorsicht etwa in Menschenmengen verloren, die Kameras gauckeln hier trügerische Sicherheit vor.