Süddeutsche Zeitung

Überschwemmungen in Nordengland:"Der Untergang"

Die Briten reden gerne über schlechtes Wetter, sie erleben es oft genug. Doch die aktuellen Überschwemmungen sorgen für ein Chaos ungekannten Ausmaßes. Und der nächste Sturm naht schon.

Von Christian Zaschke, London

Es wird zum gewohnten Bild im britischen Winter: Politiker waten in meist nagelneuen Gummistiefeln durch überflutete Städte, deren Straßen zu Flüssen geworden sind. An diesem Montag war es Premierminister David Cameron, der sich ein Bild von den aktuellen Überschwemmungen im Norden des Landes machte und möglichst vielen Helfern die Hände schüttelte. Es ist ein ebenso altes wie wahres Klischee, dass in Großbritannien gerne übers Wetter gesprochen wird, meist mit ein wenig augenzwinkernder Übertreibung - aus leichtem Schneefall wird dann in Gesprächen im Pub und auch in den Nachrichten rasch ein Schneechaos ungekannten Ausmaßes. Nun aber, da die Überflutungen tatsächlich Chaos verursachen, gibt es auf der Insel nur noch ein Thema. Der Independent erschien am Montag mit der Schlagzeile: "Der Untergang Nordenglands".

Unablässiger Regen hat über die Weihnachtsfeiertage dazu geführt, dass die Flüsse anschwollen und über die Ufer traten. Die Umwelt-Agentur hat derzeit zehn schwere Flutwarnungen für Teile des Nordwestens und Nordostens herausgegeben, was bedeutet: In diesen Gegenden herrscht Lebensgefahr. Zudem gibt es 100 weitere Warnungen für England und Wales. Besonders betroffen sind derzeit Yorkshire und Lancashire. Für diese Gegenden will die Regierung umgehend finanzielle Nothilfe bereitstellen.

Die Leute versuchen, Haltung zu wahren. Einer posiert vor seinem gefluteten Haus als Piratenkapitän

In Yorkshire erreichte der Fluss Calder übers Wochenende einen Pegelstand von 5,65 Metern. Die hier normalerweise erreichten Höchststände liegen knapp über zwei Metern. In manchen Häusern wurden die Erdgeschosse komplett überflutet. Tausende Anwohner mussten ihr Heim verlassen, manche mussten mit Booten gerettet werden. Der Wirt Christian Pollitt aus Mytholmroyd etwa erzählte dem Guardian, wie er aus seiner Wohnung im ersten Stock hilflos dabei zusehen musste, wie sein Pub, das "Dusty Miller Inn", mit Wasser volllief. Innerhalb von Minuten wurde aus der Küche im Wert von 50 000 Pfund ein Haufen Schrott. Essen im Wert von 20 000 Pfund schwamm im Matsch. Pollitt harrte mit acht weiteren Erwachsenen, drei Kindern und einem Hund aus. Schließlich kletterte die Gruppe aufs Dach und wurde von einem Rettungsboot in Sicherheit gebracht. Solche Geschichten spielen sich in Nordengland derzeit zu Hunderten ab.

500 Soldaten unterstützen die Einsatzkräfte am Ort, mit Militärhubschraubern werden Sandsäcke geliefert. 1000 weitere Soldaten sind in Bereitschaft versetzt worden. Ein weiteres Klischee über Großbritannien besagt, dass die Einwohner solchen Situationen mit Gelassenheit und bisweilen sogar Heiterkeit begegnen, und auch dieses entpuppt sich wieder einmal als wahr. In York grüßte ein Mann vor seinem gefluteten Haus, der sich als Captain Jack Sparrow aus dem Film "Pirates of the Caribbean" verkleidet hatte.

In dem Städtchen mit dem bemerkenswerten Namen Todmorden brachte unterdessen eine Familie 250 Portionen Chicken Biryani und 200 Donuts vorbei, weil sie im Fernsehen gesehen hatte, dass dort viele Menschen nicht mehr kochen konnten. Auf einem Spendenkonto für die Betroffenen im Calder Valley waren bis Sonntagabend 60 000 Pfund eingegangen.

Bereits Anfang Dezember hatten weite Teile Cumbrias im Nordwesten Englands unter Wasser gestanden, nachdem der Sturm Desmond über die Gegend gefegt war und an einem Tag so viel Regen fiel wie sonst in einem Monat. Über Weihnachten zog dann Sturm Eva übers Land, erneut regnete es ununterbrochen. Die britische Umweltagentur teilte am Montag mit, bisher haben man mit "bekannten Extremen" zu tun gehabt. Nun müsse man sich auf "unbekannte Extreme" einstellen. David Rooke, stellvertretender Chef der Agentur, sagte, man müsse den Hochwasserschutz im Land komplett überdenken. Im nächsten Sommer soll ein entsprechender Bericht vorgelegt werden.

Erst im vergangenen Jahr hatte der seinerzeit laut offiziellen Angaben "nasseste Winter seit 250 Jahren" dazu geführt, dass größere Teile von Südengland und Wales überflutet waren. Die Bewohner von Somerset kämpften monatelang mit den Fluten, die Bahnstrecke nach Cornwall war tagelang in Teilen nicht befahrbar. Auch damals schwärmten die Politiker in nagelneuen Gummistiefeln in die Hochwassergebiete aus, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Premierminister David Cameron reiste nach Dawlish in Devon und kündigte genau das Gleiche an, was er auch am Montag in York ankündigte: dass die Regierung alles tun werde, um die Schäden zu beheben und den Opfern zu helfen, dass aber die Probleme nicht von heute auf morgen zu lösen seien.

Die Kosten der jüngsten Überschwemmungen schätzt eine Wirtschaftsprüfungsagentur auf mindestens 1,5 Milliarden Pfund, umgerechnet zwei Milliarden Euro. Besonders Kleinunternehmer und Versicherungen seien betroffen. Diese dürfte beunruhigen, dass der Wetterdienst bereits für Mittwoch vor neuen starken Regenfällen warnt, die dann auch den Süden Schottlands betreffen könnten. Nach Sturm Desmond und Sturm Eva braut sich gerade der dritte Dezembersturm zusammen. Er wird Frank heißen.

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SZ vom 29.12.2015
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