Überschwemmung in Indien:Tragödie im Land der Götter

In Indien sterben hunderte Pilger nach heftigen Überschwemmung durch Regenfälle beim Monsun

Der Monsun traf Indien so heftig wie seit 60 Jahren nicht mehr.

(Foto: REUTERS)

Tausende sind verschollen, Hunderte in den Fluten gestorben. In Nordindien sind Pilger vom heftigen Monsun überrascht worden. Und die Katastrophe droht noch viel schlimmer zu werden.

Von Arne Perras, Singapur

Oben in den indischen Bergen liegt das "Land der Götter". Wenn die Sonne strahlt, wenn ein leichter Wind über die Kämme zieht und Wolken große Schatten auf die steilen grünen Hänge malen, möchten viele von dort gar nicht mehr fort. Die Täler des südlichen Himalayas begeistern Hunderttausende Urlauber und Pilger, die zu den heiligen Stätten und Hindu-Tempeln wandern. Friedliche Höhen, eine wunderbare Welt - solange der Monsun noch nicht hereingebrochen ist.

In der Zeit des großen Regens werden einige Tempelstätten jedes Jahr für mehrere Monate gesperrt, man darf dann nicht mehr hinauf. Aber am vergangenen Samstag sind noch sehr viele Menschen da oben, um die Bergwelt zu genießen, um an den Schreinen zu beten. Zu diesem Zeitpunkt fürchten offenbar weder die Menschen noch die Behörden heftigen Regen. Alle glauben, dass der Monsun erst zwei Wochen später kommen würde, dass sie noch Zeit hätten für ihren Ausflug.

170 Brücken reißen die Fluten mit sich

Aber dann ist er plötzlich da, mit einer Wucht, wie sie Indien seit 60 Jahren nicht mehr erlebt hat. Und die Tragödie in den steilen Schluchten nimmt ihren Lauf. Der Regen, der zwei Tage lang in riesigen Mengen niedergeht, verwandelt die Täler in Schneisen des Todes. 170 Brücken reißen die tosenden Fluten im Laufe der Woche ein, sie spülen mehrere Hundert Straßen fort und viele Häuser gleich mit. Und zwischen den Fluten kämpfen seither Zehntausende Bewohner, Touristen und Pilger darum, lebend davonzukommen.

Schon am Freitag waren mehr als 30.000 Menschen aus den Katastrophengebieten gerettet, aber noch stecken Zehntausende weiter in den Bergen fest. Anfangs sind es nur die Hubschrauber der Armee, die ihnen zu Hilfe kommen können und sie nach und nach ausfliegen, alle Routen am Boden sind noch abgeschnitten. 40 Helikopter werfen Essenspakete und andere Ausrüstung ab, damit die Menschen durchhalten können. Nach und nach werden nun verschüttete oder teils zerstörte Routen wieder geöffnet, sodass die Eingeschlossenen vielleicht schneller in Sicherheit gebracht werden können.

Tausende könnten ihr Leben verloren haben

Verzweiflung, Schock und Trauer halten den Norden Indiens in diesen Tagen gefangen, das ganze Ausmaß der Katastrophe ist noch immer nicht zu fassen. Die Regierung rechnet mit einer "schockierend hohen Zahl" von Toten, wie ein Beamter in den Medien sagte.

Es wird befürchtet, dass Tausende Menschen in den Fluten ihr Leben verloren haben könnten. Aber das sind noch immer Mutmaßungen, denn die Behörden konnten sich in all dem Chaos bislang kaum einen Überblick über die Zerstörungen verschaffen. Viele Tote wird man nicht bergen können, weil sie unter Schlamm und Geröll begraben liegen.

Spender des Lebens, Meister des Verderbens

Schon immer hatte der Monsun zwei Gesichter: Spender des Lebens, Meister des Verderbens. Jedes Jahr bricht er mit Gewalt über den Subkontinent herein, wo Hunderte Millionen Bauern das Wasser für ihre Felder ersehnen. Aber oft entfesselt der Regen auch Kräfte, denen die Menschen nicht gewachsen sind. In diesem Jahr sei Indien von einem wahren "Himalaya-Tsunami" heimgesucht worden, wie Regierungschef Vijai Bahuguna beklagt, dessen Bundesstaat Uttarakhand besonders hart getroffen wurde. Auch in Uttar Pradesh, Himachal Pradesh und im Nachbarland Nepal starben viele Menschen in den reißenden Flüssen oder wurden bei Erdrutschen für immer verschüttet.

Einer, der davongekommen ist, heißt Ram Aaron und hat der Zeitung The Hindu vom Horror erzählt, oben in den Bergen. Er hat gesehen, wie Hunderte Menschen von den Strudeln fortgerissen wurden, am 17. Juni war das, im Ort Gaurikund. Er selbst konnte sich noch rechtzeitig einen Hügel hinaufretten, wo er mit anderen zwei Tage lang ausharrte, ohne Wasser und ohne Essen. Dann holte ihn schließlich ein Armeehubschrauber heraus. Er hat unglaubliches Glück gehabt an jenem Tag, aber so viele andere haben es nicht geschafft, und die Bilder der Körper in den Fluten lassen den Mann nicht mehr los.

"Die heilige Stätte hat sich in einen Friedhof verwandelt"

Einer der berühmtesten Hindu-Tempel in den Bergen Indiens steht in Kedarnath und ist der Gottheit Shiva geweiht. Der Tempel selbst scheint die Flut gerade noch überstanden zu haben. Aber Landwirtschaftsminister Harak Singh Rawat, der das Katastrophengebiet fünf Stunden lang besuchte, sagte geschockt: "Die heilige Stätte hat sich in einen Friedhof verwandelt." Rund herum sah er überall Leichen liegen. Doch um die vielen Toten kann sich bislang kaum jemand kümmern, weil erst einmal noch Zehntausende Überlebende aus der Gefahrenzone herausgebracht werden müssen.

War es mit den Mitteln der modernen Meteorologie gar nicht möglich, all diese Menschen vor dem nahenden verhängnisvollen Regen zu warnen? Es mangele, wie mehrere Fachleute in indischen Medien beklagten, an der Koordination. Meteorologische Erkenntnisse würden nicht rechtzeitig an Behörden in bedrohten Gebieten weitergereicht. Die Regierung hat nun jedenfalls nicht nur mit den Fluten, sondern auch mit Vorwürfen zu kämpfen, bei der Katastrophenvorsorge versagt zu haben.

Es gab Warnungen des Wetteramtes

Der indische Ökonom Nilabja Ghosh, der am Institute of Economic Growth in Delhi über Klimawandel im Himalaya forscht, sagte der Nachrichtenagentur AFP: "Hätte das Wetteramt eine frühere Warnung herausgegeben, hätten die Behörden Zeit gehabt, Touristen fernzuhalten und Bewohner in sicherere Zonen zu verlegen." Ja, es gab Warnungen des meteorologischen Dienstes, aber offenbar waren diese zu vage, um die Behörden aufzurütteln.

Jenseits von mutmaßlichem Missmanagement, das eine Tragödie solchen Ausmaßes womöglich mit befördert hat, prangern Ökologen seit Langem die sorglose Verbauung der Himalaya-Hänge mit immer neuen Straßen und Siedlungen an und auch die rabiate Abholzung der Bergwälder, die Fluten und Erdrutsche in den Regionen verschärfen.

"In unserem Land geschieht nichts vor einem Desaster und auch nicht danach", klagte Anil Joshi, Direktor der indischen Umweltorganisation HESCO, die sich mit den Zerstörungen in den Himalaya-Gebieten beschäftigt. Er spricht von einer planlosen Entwicklung in den Bergen und prangert den Bau von Dämmen und Straßen in fragilen Ökosystemen an, die solche Eingriffe nicht gut verkrafteten. Doch diese Argumente werden schon seit Jahren von Umweltschützern vorgebracht, ohne dass sie große Wirkung zeigten.

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