Überlebende von Utøya im Zeugenstand:"Wir haben gewonnen, er hat verloren"

Sie versteckten sich im Wald oder schwammen im eiskalten Wasser um ihr Leben: Im Prozess gegen den norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik sagen nun die Überlebenden des Massakers von Utøya aus. Die Zuschauer sind bewegt von der Kraft der jungen Menschen im Zeugenstand.

Annette Ramelsberger, Oslo, und Lena Jakat

"Ich zog mich aus und schwamm los. Das Wasser war sehr kalt. Ich sah eine in Schwarz gekleidete Person und erkannte die Gefahr. Ich schwamm um mein Leben." An Tag 18 im Prozess gegen den geständigen Massenmörder Anders Behring Breivik füllen Sätze wie dieser den Saal 250 im Osloer Bezirksgericht. Es ist nun an den Opfern, ihre Sicht auf jenen 22. Juli 2011 zu schildern. Die ersten sechs Tage des Verfahrens waren der Aussage des Rechtsextremisten gewidmet, nun sind die Überlebenden des Massakers von Utøya an der Reihe. Einer nach dem anderen treten sie in den Zeugenstand und schildern ihre Erlebnisse auf der Insel.

Zeitstrahl: Breivik - vom Extremisten zum Massenmörder

Anders Behring Breivik plante seine Taten Jahre im Voraus: Klicken Sie in das Bild, um zu einem interaktiven Zeitstrahl über den Attentäter zu gelangen.

Die fünf jungen Menschen, die an diesem Montag ihre Erinnerungen mit dem Gericht und den Zuschauern teilen, haben im vergangen Sommer um ihr Leben gekämpft, sind vor Breivik ins eiskalte Wasser des Tyrifjord-Sees geflohen oder haben sich stundenlang im Gehölz versteckt. Eine junge Frau berichtet, wie sie sich selbst eine Kugel entfernte, die sie in den Oberschenkel getroffen hatte, und dann ihre Eltern anrief, um ihnen zu sagen, dass sie jetzt ins Wasser gehen würde. Gut 600 Meter sind es von der winzigen Insel bis zum Festland. "Wir haben gewonnen, er hat verloren", sagt sie. "Junge Norweger können schwimmen."

Das schaffte ein junger Mann nicht mehr, die Kugel steckte in seiner Lunge. Er erzählt, wie er sich unter Bäumen versteckte, sich mit Erde bedeckte, um nicht gesehen zu werden. Zwei Stunden lang harrte er dort so aus, schrie nicht um Hilfe, als die Polizei auf der Insel eintraf. Erst als die Beamten das Gelände durchkämmten, entdeckten sie den 20-Jährigen. Eine Viertelstunde länger, sagen Rettungskräfte später, und er wäre womöglich nicht mehr am Leben.

"Ich habe die drei Jüngsten verloren"

Er und sein Freund hätten das Zeltlager verlassen wollen, nachdem sie von dem Attentat in Oslo gehört hatten, sagt ein anderer junger Mann. Freunde hätten sie dann aber überzeugt, zu bleiben. "Es wird alles gut", habe er sie dann beruhigt, als sie sich gemeinsam hinter einem Felsen versteckten, die Schüsse des Attentäters im Ohr.

Eine andere Zeugin erinnert sich, wie sie erst am rettenden Ufer das Blut auf ihrer Kleidung bemerkte, dort, wo eine Kugel des Attentäters sie getroffen hatte. Sie fühle sich irgendwie "schuldig", sagt die 20-Jährige. "Ich war für die Delegation aus meiner Heimatregion verantwortlich und ich habe die drei Jüngsten verloren." Sie trägt Gänseblümchen im Haar, als sie ihre Aussage macht. Ihr Peiniger ist nicht mehr im Saal. Er wurde auf ihre Bitte in einen anderen Raum geführt, von wo aus er die Aussage der Zeugin verfolgen kann.

Fast ungläubig schildern Korrespondenten vor Ort, wie ruhig und gefasst die Jugendlichen, die auf Utøya eine fröhliche Ferienzeit verbringen wollten, ihre Aussagen machen. "Diese Zeugen sehen so jung aus - sie sind so jung", schreibt Helen Pidd, Reporterin des britischen Guardian, auf Twitter. "So traurig, sie darüber sprechen zu hören, wie sie zusehen mussten, wie Breivik ihre Freunde tötete." "Surreal", versucht Sky-News-Korrespondent Trygve Sorvaag seinen Eindruck in Worte zu fassen.

In den Zuschauerreihen sind Seufzer zu hören, manche weinen, als sie den Berichten der Jugendlichen folgen.

Breivik habe sich keinerlei Emotionen anmerken lassen, als er auf Utøya um sich schoss und 69 Menschen ermordete, sagen die Zeugen. So ist es auch an diesem Prozesstag. Der Angeklagte stellt seinen immer gleichen, harten Gesichtsausdruck zur Schau, während er sich Notizen auf Post-It-Zetteln macht.

Mit der Aussage des fünften Überlebenden geht der Prozess in Oslo für diesen Montag zu Ende. Am Dienstag will das Gericht sechs weitere Zeugen des Massakers hören. Insgesamt stehen 49 Überlebende auf der Zeugenliste. Die Wochen bis zum ersten Juni sind allein für jene eineinhalb Stunden des Grauens auf Utøya reserviert. Erst wenn die Opfer des Attentäters alles gesagt haben, werden Anklage und Verteidigung mit ihrer Beweisführung beginnen.

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