Übergriffe an Silvester:Woran und warum die Polizei in Köln scheiterte

Die interne Kritik bei der Kölner Polizei wird lauter: Wurde die Lage am Hauptbahnhof falsch eingeschätzt? Waren zu wenige Einsatzkräfte verfügbar? Die Aufarbeitung der Silvesternacht kommt nur stückweise voran.

Von Jana Stegemann und Oliver Klasen

Es ist ein bitteres Eingeständnis des Scheiterns, wenn ein Polizist in einen Einsatzbericht schreiben muss, dass die Einsatzkräfte "nicht allen Ereignissen, Übergriffen und Staftaten Herr werden" konnten. Doch genau dieser Satz steht in einem internen Dokument, das ein leitender Beamter der Bundespolizei in Köln am 4. Januar - also drei Tage nach den Übergriffen - verfasst hat.

Aus einer Gruppe von etwa 1000 Menschen, die sich dort aufhalten, teilweise stark alkoholisiert sind, Böller in die Menge werfen und randalieren, lösen sich - so stellt sich die Lage inzwischen dar - immer wieder kleinere Gruppen von Männern. Im Bahnhofsgebäude und auf dem Domvorplatz gehen sie auf Frauen los, die alleine oder in kleinen Gruppen unterwegs sind. Die Täter, die Betroffene später fast alle als "nordafrikanisch oder arabisch aussehend" beschreiben, umzingeln die Frauen, stehlen ihnen Geldbörsen und Handys. Was für viele Opfer am schlimmsten ist: Sie werden begrapscht, befummelt, aufs Übelste sexuell attackiert und in mindestens zwei Fällen vergewaltigt.

All das passiert quasi vor den Augen der Polizei, deren ureigenste Aufgabe es ist, für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Was der jetzt bekannt gewordene interne Bericht, dessen Echtheit die Bundespolizei inzwischen bestätigt hat, sagt: Genau das konnten wir an diesem Abend nicht. Wir waren überfordert. Es waren zu viele Straftaten auf einmal. Wir mussten die Täter gewähren lassen.

Es ist kein Wunder, dass vor diesem Hintergrund die Kritik an den Einsatzkräften immer lauter wird. Der Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers, der schon bei früheren Ereignissen eine unglückliche Figur machte, wird mehrfach zum Rücktritt aufgefordert. Sogar Bundesinnenminister Thomas de Maizière schaltet sich ein, kritisierte die Taktik der Einsatzkräfte und schiebt dann einen Satz hinterher, der ein starkes Stück ist für den obersten Dienstherrn aller Bundespolizisten: "So kann Polizei nicht arbeiten".

Es sind im wesentlichen vier Vorwürfe, die der Polizei nach der Silvesternacht in Köln gemacht werden:

1. Die Beamten seien mit viel zu wenigen Kräften vor Ort gewesen

Nach den neuesten Zahlen waren 70 Bundespolizisten und noch einmal etwa 150 Landespolizisten am Kölner Hauptbahnhof im Einsatz. Die Zahl der Polizisten sei etwa doppelt so hoch gewesen wie an einem normalen Tag, sagt Ernst Walter, der Chef der Bundespolizeigewerkschaft in Nordrhein-Westfalen. "Aber wir hätten mindestens eine Hundertschaft mehr gebraucht."

Dass die Polizei personell viel zu schlecht ausgestatttet war, steht auch in dem internen Bericht. "Da man nicht jedem Opfer einer Straftat helfen und den Täter dingfest machen konnte, kamen die eingesetzten Beamten an die Grenze zur Frustration." Zu Spitzenzeiten sei es den Polizisten nicht einmal möglich gewesen, "angefallene Strafanzeigen vorzunehmen". Man habe befürchtet, "dass die uns gebotene Situation noch zu erheblichen Verletzungen, wenn nicht sogar zu Toten führen würde."

Auch Erich Rettinghaus, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft in Nordrhein-Westfalen, sagt: "Für einen normalen Silvesterabend hätte der Kräfteansatz gereicht. Aber diese Lage war mit den vorhandenen Beamten definitiv nicht zu händeln".

2. Die Polizei habe zu passiv agiert

Dass ist im Kern der Vorwurf, den Innenminister de Maizière formuliert hat. Auch Justizminister Heiko Maas (SPD) sagt: "Die Polizei muss sich die Frage stellen lassen, ob sie die Vorfälle wirklich schon in der Silvesternacht ernst genug genommen hat."

"Wir haben uns auf eine Anti-Terror-Lage eingestellt", sagt Bundespolizeigewerkschafter Walter. Die Lage sei aufgrund von Erfahrungswerten von der zuständigen Polizeibehörde richtig beurteilt worden, so Walter. "Die Eskalation hätte man nicht vorhersagen können. Polizisten sind keine Hellseher. Ein solches Massenphänomen haben wir noch nie zuvor in Deutschland gehabt. Es hätte auch an anderen Bahnhöfen passieren können."

Walter zufolge haben die zuständigen Polizeiführer die Lage sehr wohl erkannt. Das Problem: Es habe keine Verstärkung angefordert werden können. "Für dieses Szenario gab und gibt es nicht genügend Reservekräfte. Wir haben in NRW eine mobile Einheit, die ist aber seit Oktober 2015 im Einsatz an den bayerischen Grenzen. Seit September 2015 machen dort außerdem etwa 2000 Polizistinnen und Polizisten mit der Registrierung und humanitären Betreuung von Flüchtlingen im Prinzip polizeifremde Arbeiten." Gerade in diese Zeiten sei es aber unbedingt nötig, mehr Personal zur Verfügung zu haben, so Walter. "Das hat ganz klar mit der Unfähigkeit der Politik zu tun, eine solche Lage zu erkennen." Dass in der Nacht kaum Anzeigen aufgenommen worden seien, erklärt Walter so: "In einer solchen Situation geht Opferschutz vor Strafverfolgung."

Sein Gewerkschaftskollege Rettinghaus bestätigt, dass "das Anzeigeverhalten in jener Nacht eher zurückhaltend gewesen" sei. Eine Vielzahl von Anzeigen, gerade von Opfern, die nicht aus Köln stammen, sei erst am Tag danach eingegangen, teilweise auch über Online-Formulare, die dann erst hätten bearbeitet werden müssen.

Rettinghaus zufolge erschwert auch die fehlende Videoüberwachung vor dem Hauptbahnhof und auf der Domplatte die Aufklärung der Taten: "Wir sind da völlig auf die Kameras der Bahn und von Privatunternehmen oder Hotels angewiesen. Die Kameradichte in jeder Lidl-Filale ist höher als auf öffentlichen Plätzen in Nordrhein-Westfalen". Es sei seit langem bekannt, dass am Kölner Hauptbahnhof Diebesbanden unterwegs seien. Jetzt zeige sich, dass es ein Fehler sei, solche neuralgischen Punkte nicht intensiver zu überwachen.

3. Es habe ein Kompetenz-Wirrwarr zwischen verschiedenen Polizeieinheiten gegeben

Die Zuständigkeiten zwischen Bundes- und Landespolizei sollen nicht geklärt gewesen sein, was zu unheilvollen Situationen geführt haben soll: In diversen Medienberichten heißt, es, Frauen, die sich auf dem Vorplatz an Polizisten wandten, seien von den Beamten zur Bahnhofstür geleitet und verabschiedet worden - direkt in die Arme der Angreifer.

Theoretisch beginnt an der Bahnhofstür das Hoheitsgebiet der Bundespolizei. Davor und drumherum ist dagegen die Landespolizei zuständig. Generell, so erklärt Bundespolizei-Gewerkschafter Walter, gelten die Zuständigkeiten sowieso nur bei Routinekontrollen. In Notsituationen und bei Gefahrenabwehr seien sie zweitrangig, dann sei jeder Beamte - ob Landes- oder Bundespolizist - zum Eingreifen verpflichtet. "Die Zusammenarbeit zwischen Landes- und Bundespolizei an Silvester war reibungslos", sagt Walter.

4. Die Kommunikation in den Tagen nach Silvester sei ein Desaster gewesen

Der Polizeibericht vom Neujahrsmorgen spricht noch von einem fröhlichen Silvester. "Ausgelassene Stimmung - Feiern weitgehend friedlich", so meldete es die Kölner Polizei in einer Pressemitteilung um 8.57 Uhr. Die Situation am Kölner Hauptbahnhof wird mit keinem Wort erwähnt, dabei sind schon in der Neujahrsnacht erste Anzeigen von Frauen eingegangen.

In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker kritisiert Kölns Polizeipräsident Wolfgang Albers: "Diese erste Auskunft war falsch." Er meint damit aber nur den voreiligen Polizeibericht. Sonst sei alles gut gelaufen an Silvester, die Polizei habe die Lage leider erst spät erkennen können - dann habe sie aber konsequent gehandelt, so Albers.

Das ist eine Version, die sich inzwischen nicht mehr halten lässt. Und mit dieser Aussage macht sich der Chef der größten Polizeibehörde in Nordrhein-Westfalen angreifbar.

Zum wiederholten Male ist Albers stark unter Druck. Unter anderem Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) kritisierte den Einsatz der Kölner Polizei. "Wenn ein Einsatz reibungslos läuft, dann denkt die Politik darüber nach, wo man Einsatzkräfte einsparen kann. Herr de Maizière sollte einfach mal `Danke´ sagen, dass nicht noch mehr passiert ist", sagt Polizeigewerkschafter Walter.

Brisanter zweiter Polizeibericht

Am Donnerstag kündigte die Kölner Polizei an, keine Auskünfte mehr zum Ablauf des Kölner Einsatzes zu geben, weil sie zunächst dem Innenministerium Bericht erstatten wolle. Außerdem aus Respekt vor dem Parlament, dessen Innenausschuss sich am Montag damit befassen wolle.

Unbestätigten Medienberichten zufolge ist am späten Nachmittag ein zweiter interner Polizeibericht vom 2. Januar aufgetaucht - der der Version von Polizeipräsident Wolfgang Albers widerspricht. Dieser hatte nach den Geschehnissen der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof gesagt, es gebe keine Informationen zur Herkunft der Täter. Man wisse nicht, woher diese Personen kamen.

Der Express zitiert aus dem Bericht jedoch wie folgt: "Gegen 22.48 Uhr konnten im Bereich Roncalliplatz/Domplatte/Bahnhofsvorplatz mehrere tausend Personen (genaue Verifizierung nicht möglich) mit Migrationshintergrund (vermutlich mit Flüchtlingsbezug) festgestellt werden." Bei den durchgeführten Personalienfeststellungen habe sich der überwiegende Teil der Personen nur mit dem Registrierungsbeleg als Asylsuchender des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ausweisen können, Ausweispapiere hätten in der Regel nicht vorgelegen.

Stimmen diese Angaben, waren die überprüften Personen offenbar Flüchtlinge, deren Nationalität der Polizei frühzeitig - und definitiv vor der Pressekonferenz des Polizeipräsidenten Albers - bekannt waren.

Lesen Sie dazu auch die Seite Drei "Schock, Schwere, Not" - mit SZ Plus:

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: