Übergriffe:Fass mich nicht an

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"Die Frauen lassen sich weniger gefallen." Lebkuchenherz einer Besucherin des Cannstatter Wasen. (Foto: Sebastian Kahnert/dpa)

Auf den diesjährigen großen Volksfesten wurden deutlich mehr Sexualdelikte angezeigt als im Vorjahr. Das könnte der Köln-Effekt sein.

Von Friederike Zoe Grasshoff

Mal ist es ein gehauchtes "I love you, Baby" auf der Rolltreppe, mal eine Hand an der Hüfte, mal nur ein paar Schritte im Rücken. Mal sind es aber auch niedergedrückte Arme, ein fremder Körper über einem, ein Geruch, den man nie riechen wollte. Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist ein sehr weites Feld. Oft ist es schwer zu sagen, was für eine Berührung oder was für ein Spruch das nun eigentlich war: Soll man sich wehren, zurückbrüllen, 110 wählen? Oder den Idioten ignorieren und weiterlaufen? Vielleicht wäre das ja die schlimmste Strafe für ihn, vielleicht wäre es die einfachste Lösung für einen selbst? Und dann gibt es diese Fälle, wo eigentlich alles klar ist. Eine Hand unter dem Rock, ein erzwungener Kuss samt Bierfahne, ein Körper, der sich an einem reibt - im Juristendeutsch auch als Sexualdelikte bekannt.

Diese Fälle sind nur drei von insgesamt 22 Sexualdelikten, die auf dem Cannstatter Volksfest, dem Wasen, angezeigt worden sind. Dass es auf solch biergetränkten Gelagen zu Übergriffen kommt, verwundert nicht. Was jedoch verwundert, ist der Anstieg der angezeigten Sexualdelikte im Vergleich zum Vorjahr: So wurden auf dem Wasen 2015 vergleichsweise wenig Übergriffe zur Anzeige gebracht, nämlich zwei. Zunächst hatte das Online-Magazin Huffington Post über den Anzeigenanstieg berichtet, auf SZ-Anfrage bestätigte die Stuttgarter Polizei die 22 Fälle von sexueller Nötigung und Beleidigung. Zudem sei auch eine Anzeige wegen Vergewaltigung eingegangen, sagte Polizeisprecher Jens Lauer. Dabei handele es sich jedoch um einen "unklaren Sachverhalt" mit "widersprüchlichen Informationen".

Immer wenn dieser Tage von sexueller Gewalt die Rede ist, schwebt die Kölner Silvesternacht über alledem; längst hat sie sich als Symbol für Übergriffe auf Frauen und die Diskussion über die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin etabliert. Ja, diese Übergriffe waren massiv. Ja, die gewalttätigen Männer stammten überwiegend aus Nordafrika - aber wird in Deutschland nun wirklich dauerhaft mehr gegrapscht und bedrängt als noch vor ein paar Jahren? Oder ist seit diesem emblematischen Datum, an dem auch in Hamburg und Stuttgart Frauen verletzt wurden, die Anzeigebereitschaft gestiegen?

Zumindest im Falle des Cannstatter Volksfests geht Polizeisprecher Lauer davon aus, dass sich "durch die Übergriffe in Köln und Stuttgart in jener Nacht das Anzeigeverhalten verändert" habe. "Die Frauen lassen sich weniger gefallen." Bei den 22 Übergriffen handele sich aber nicht um das gleiche Phänomen wie an Silvester; die Täter seien Briten wie Schweizer wie Deutsche gewesen, "meines Wissens war kein einziger Asylbewerber darunter."

Einen Anstieg von Anzeigen von Sexualdelikten stellt auch die Münchner Polizei in ihrer vorläufigen Abschlussbilanz zum Oktoberfest 2016 fest: Demnach sind 31 Delikte angezeigt worden, darunter auch eine Vergewaltigung - 2015 betrug die Zahl der Anzeigen 21. Ob es also um das größte Volksfest der Welt geht, den Berliner Karneval der Kulturen oder die Bergkirchweih in Erlangen - man hört Anzeige. Womöglich hat sich also wirklich etwas verändert, durch die emotionale wie wichtige Silvester-Debatte, durch das "Nein heißt Nein"-Prinzip im neuen Sexualstrafrecht.

Vielleicht gibt es ihn ja, den Köln-Effekt: "Das Thema sexuelle Gewalt wird seit Anfang des Jahres breit diskutiert in der Gesellschaft, in den Medien", sagt Silvia Zenzen, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit beim Verein Frauen gegen Gewalt. "Frauen haben mehr das Gefühl, dass ihnen geglaubt wird." Manche hätten ein anderes Bewusstsein entwickelt: "Dass es nicht die Schuld der Frau, sondern die des Täters ist." Was zumindest mal ein Fortschritt wäre.

© SZ vom 12.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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