Übergriffe bei den Jesuiten:Der Weg des Wolfgang S.

Der Jesuitenpater Wolfgang S. misshandelte über Jahrzehnte in mehreren Kollegs seine Schüler: Viele wussten davon, keiner handelte. Eine Chronik des Wegsehens

Oliver Bilger

Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen: Dass Verantwortliche innerhalb der Kirche, beim Orden der Jesuiten und an den von Missbrauchsfällen betroffenen Schulen immer wieder nach diesem Prinzip gehandelt haben, lässt sich wohl kaum besser illustrieren als mit dem Fall des Wolfgang S.

Der frühere Jesuitenpater und Lehrer am Berliner Canisius-Kolleg, Jahrgang 1945, wurde drei Mal versetzt, obwohl seine Neigung zur Gewalttätigkeit im Orden bekannt war. Nach jeder Versetzung wiederholten sich die Taten nach demselben Muster. Dabei hat er selbst immer wieder auf seine "Probleme" hingewiesen. Es klang oft wie ein Hilferuf. Viele der heute verjährten Taten gibt er zu. Die SZ hat versucht, den Weg von Wolfgang S. nach all den Jahren zu rekonstruieren.

Erstes Kapitel: Berlin

Bevor Wolfgang S. am Canisius-Kolleg Lehrer wurde, war er dort Schüler. An der angesehenen Jesuitenschule im Stadtteil Tiergarten bestand er sein Abitur. Bereits in seiner Schulzeit - S. war Leiter einer Jugendgruppe - soll es "Verfehlungen" gegen Jüngere gegeben haben. Er hat das viele Jahrzehnte später bei seinem Austritt aus dem Orden selbst eingeräumt.

1964 trat S. den Jesuiten bei. Dem Orden will er schon damals von seiner "Problematik" berichtet haben. Er wurde trotzdem Novize, studierte in Spanien Philosophie, wo ebenfalls Übergriffe bekannt wurden. In seiner Personalakte beim Orden befindet sich ein Schreiben aus dem Jahr 1967. Dort steht, dass ihm "mehrfach die Hand ausgerutscht" sei, "auch dort, wo es nicht unbedingt notwendig gewesen wäre." Auch Depressionen werden erwähnt. In den folgenden Jahrzehnten machte S. nach eigenen Angaben immer wieder auf seine "Verfehlungen gegen Kinder und Jugendliche" aufmerksam; er habe Psychiater und Verantwortliche im Orden informiert, bis nach Rom. Keiner unternahm etwas.

Von 1968 an war S. während des Interstiz, einer Praxisphase in der Ordensausbildung, Geographielehrer am Canisius- Kolleg und half bei der Jugendarbeit. Es folgte ein Theologiestudium in Frankfurt. 1975 kehrte er als Referendar zurück ans "CK", studierte nebenher Germanistik.

Peter Wohle (Name geändert) war einer seiner Schüler. Am Kolleg ging es damals streng zu. Wolfgang S. war anders - ein Kumpeltyp, der einen lockeren Umgang mit den Schülern pflegte und zuhörte, wenn sie Sorgen hatten. Statt Soutane trug er Cordhose, Sweatshirt und Polohemd. "Wir durften ihn duzen, sogar im Unterricht", erinnert sich Wohle. Im Kollegium schätzte man den Pädagogen, er galt als engagiert und gewissenhaft.

"Ich war völlig perplex"

Der heute 46-jährige Wohle bekam Wolfgang S. in der siebten Jahrgangsstufe als Klassenlehrer in Deutsch. Dass der Priester Jungen manchmal in den Arm nahm oder ihnen einen Klaps auf den Hintern gab, fand er schon zu dieser Zeit merkwürdig. Nun weiß er: "Das war mehr als eine freundschaftliche Geste." Er selbst bekam von ihm Postkarten aus dem Urlaub: "Ich freue mich, dich wiederzusehen", stand darauf. "Eine Zeitlang war ich in seinem Fokus", sagt Wohle.

Einmal holte Pater S. den 13-Jährigen aus der Französischstunde. In einer Kammer unter dem Dach sprach S. über Zensuren: Er wolle, dass Wohle gute Noten bekomme, er werde sich für ihn einsetzen. Der Lehrer forderte von Wohle eine Gegenleistung: Schläge auf den Po sollte es geben, wahlweise 100 auf den Hosenboden oder 70 auf den blanken Hintern. "Ich war völlig perplex, das hatte ich ihm nicht zugetraut." Wohle weigerte sich.

Andere Schüler blieben nicht verschont von den Hieben mit der Hand oder mit dem Gürtel, sogar von einem Teppichklopfer ist die Rede. Wer einwilligte, besiegelte die "Vereinbarung" per Handschlag: Schläge als Preis für bessere Noten. Der Pater, so erzählen Schüler, habe die Situation genossen. Sie berichten von Blutergüssen, rotgedroschenen Pobacken, von tagelangen Schmerzen. Der Lehrer ermahnte die Jugendlichen zu schweigen. "Wir hatten unheimlich großen Respekt vor den Patres", erklärt Wohle. Auf dem Pausenhof nannten sie S. "Pavian".

Im ersten Untersuchungsbericht von Ursula Raue, der Missbrauchsbeauftragten der Jesuiten, steht, dass viele Opfer die "sadistisch-sexuelle Komponente dieses Verhaltens erst sehr viel später im Leben verstanden" hätten. 50 Opfer von insgesamt drei Patres am Canisius-Kolleg meldeten sich bei ihr. Das Ausmaß der seelischen Verletzungen sei enorm, sagt sie.

Bei einem Ausflug im Herbst 1977 blieb es nicht allein bei Schlägen aufs Gesäß. Wohle erinnert sich noch genau an diesen einen Nachmittag - es war sein 14. Geburtstag. Im Schullandheim am Wannsee tobten Schüler mit S. durch den Gemeinschaftsraum. "Wir haben gerauft und gerungen", sagt Wohle, "auf einmal hatte ich seine Hand an meinem Geschlechtsteil." Der Pater habe ihm von hinten durch die Beine gegriffen. Wohle weiß noch, wie er sich erschrocken umdrehte und seinem Lehrer eine Ohrfeige verpasste, so schallend, dass dem die Brille aus dem Gesicht flog. "Plötzlich war es totenstill", sagt Wohle. Der Pater habe die anderen Schüler konsterniert angewiesen, das Abendessen vorzubereiten; über den Vorfall verlor er kein Wort. Wohle ist nicht der einzige, der von solchen sexuellen Übergriffen berichtet.

Dass sich der Junge gegen Schläge und Zudringlichkeiten wehrte, bekam er heimgezahlt. Wer sich widersetzte, wurde Wohles Worten zufolge gemobbt. "Ich bekam in Französisch sofort eine Sechs im Zeugnis." Zwei weitere Patres unterstützten S. angeblich: Für Nichtigkeiten setzte es Klassenbucheinträge und Tadel, die Noten sausten in den Keller. "Der Druck wurde erhöht, ich hatte jeden Tag Bauchschmerzen." Wohle versuchte, seinem früheren Klassenlehrer die Vorgänge zu schildern, doch der habe davon nichts hören wollen. Auch seiner Mutter erzählte er von den Vorfällen, doch sie glaubte ihm zunächst nicht. Ihre Einwilligung zu einem Schulwechsel erhielt er erst nach langen Diskussionen. Nachdem Wohle 1979 vom Canisius abgegangen war, hatte er schnell wieder einen Einserschnitt. Damit waren die Vorkommnisse für ihn abgehakt und verdrängt, er habe sie "ganz gut weggesteckt", sagt er. Die ganze Dimension sei ihm erst weit nach Schulende bewusst geworden.

In den vergangenen Wochen hat S. in mehreren Mitteilungen an die Opfer und an verschiedene Medien die Schläge zugegeben, doch habe er niemals "mit Minderjährigen Sexualkontakt im Sinne von Genitalberührung, Penetration, Vergewaltigung, Exhibitionismus oder Voyeurismus gehabt". Nie will er bei seinen Bestrafungen sexuelle Erregung gesucht oder empfunden haben. Fragen von Journalisten lehnt er inzwischen ab.

Das Canisius-Kolleg verließ er 1979. Warum, das ist heute schwer zu rekonstruieren. Der damalige Rektor, Pater Rolf-Dietrich Pfahl, habe um den "Zustand" von S. gewusst, heißt es in Raues Bericht. Er empfahl eine Therapie, in einer Kieler Einrichtung gab es einen Platz. Auf Anfrage der SZ sagt Pfahl, er erinnere sich daran, dass die Therapie eine Rolle bei der Versetzung gespielt habe. "Mehr kann ich aus dem Gedächtnis heraus nicht sagen."

S. selbst erklärte kürzlich: "Ich litt an einer später diagnostizierten Persönlichkeitsstörung." Obwohl der Orden schon früh informiert war, habe er verpasst, ihn aus dem "pädagogischen Kontext zu verbannen". Wer an der Schule und wer im Orden wie viel wusste, diese Frage lässt sich Jahrzehnte später kaum noch beantworten. Ursula Raue vermutet, dass die Probleme von S. später auch den Schulleitern in Hamburg und in St. Blasien bekannt waren. Warum S. "immer wieder als Lehrer, insbesondere als Sportlehrer eingesetzt wurde, ist nicht erkennbar", steht in dem Bericht: "Es kann nur vermutet werden, dass man der Ansicht war, die Therapien würden die Probleme lösen."

Zweites Kapitel: Hamburg

An der Elbe bot Wolfgang S. eine Lauf-AG an, mit Schülern rannte er rund um Hamburg und von der Hansestadt in Etappen bis nach Basel. Auch die Schüler an der St.-Ansgar-Schule mochten den Pater, schenkten ihm Vertrauen. Von fünf Opfern weiß der heutige Schulleiter Friedrich Stolze inzwischen. Es sei jedoch naiv zu glauben, dass es nicht noch weitere Betroffene geben könnte. Die Züchtigungsrituale ähnelten denen in Berlin: Schläge mit der Hand oder dem Stock auf den nackten Hintern, in der Umkleidekabine, vor den Augen der Kameraden.

Vor wenigen Wochen hat Stolze mit Kollegen gesprochen, die damals ebenfalls in Hamburg unterrichteten. Sie fragten sich: Gab es Hinweise? Sie erinnerten sich nicht. Ausschließen, dass Eltern sich an die Schulleitung gewandt haben, will Stolze nicht. Der damalige Schulleiter soll jedenfalls nicht vom Orden über Gründe für die Versetzung informiert worden sein. Er ist inzwischen verstorben. Für Stolze ist die Versetzung nach Hamburg ein "unfassbarer Vorgang".

S. blieb nur kurz in Hamburg, schon 1982 verließ er die Stadt wieder. In Raues Untersuchung heißt es dazu lediglich, S. habe nicht bleiben können, weil sich die Wohnsituation änderte. Er beendete seine Therapie in Kiel, ein neuer Therapieplatz fand sich Freiburg.

Drittes Kapitel: St. Blasien

Zu Beginn des Schuljahres 1982/83 wurde der Pater ans Kolleg St. Blasien versetzt. Im Schwarzwald unterrichtete er wieder als Sportlehrer. "Seine Lauferei hatte fast was Fanatisches", erinnert sich der heutige Direktor Pater Johannes Siebner. Auch in St. Blasien soll S. Schüler geschlagen haben. Ein ehemaliger Internatsschüler berichtet, wie der Pater regelmäßig im Schlafraum jüngeren Jahrgängen aus einem Buch vorlas. Zuvor beaufsichtigte er die Kinder bei der Abendwäsche. Er verlangte, dass sich jeder mit freiem Oberkörper wusch. Wenn sich einer nicht daran hielt, hagelte es wieder Schläge auf den Po. Auch Siebner hat nach Bekanntwerden des Skandals mit alten Kollegen gesprochen, sie seien "aus allen Wolken gefallen". Der frühere Direktor, Pater Hans-Joachim Martin, hat in einem Fernsehinterview gesagt, er sei vor der Versetzung nicht vom Orden informiert worden. Als er Gerüchte von "eigenartigen Methoden bei der Nachhilfe" hört, habe er S. zur Rede gestellt und den Provinzial um Versetzung des Lehrers gebeten. Martin äußert sich dazu mittlerweile nicht mehr. Beim Jesuitenorden heißt es, man wundere sich über Martins Angaben , zumal S. später zu Besuchen nach St. Blasien zurückkehrte.

Die Jahre danach

1984/85 verbrachte S. zunächst sein Terziat in Mexiko, es ist die letzte Prüfungszeit, bevor ein Priester in den Orden eingegliedert wird. Anschließend war er in einer Pfarrei in Arica im Norden Chiles tätig. Auch aus Chile gibt es Berichte über Misshandlungen. In den Jahren 1987 und 1988 kam "Padre Wolfi" aus der fernen Pfarrei mehrmals zurück nach St. Blasien, berichtete in Vorträgen von Lateinamerika oder organisierte Besinnungstage. Bei diesen Besuchen muss er abermals Schüler misshandelt haben. Nach 1990 gab es laut S. keine Übergriffe mehr.

1991 lernte Wolfgang S. eine Chilenin kennen und beantragte die Laisierung aus dem Orden. In einem Fragebogen zur Rückversetzung in den Laienstand gab er die Bestrafungsrituale zu. Das Paar heiratet und hat heute eine zwölf Jahre alte Tochter. S. verließ den Orden, wurde aber weiter von der Kirche beschäftigt. Mitte der Neunzigerjahre übernahm er die Erwachsenenbildung für das katholische Kolpingwerk in Lateinamerika. Von der Hauptstadt Santiago de Chile aus schulte er Mitarbeiter des Sozialverbands von Mexiko bis Nicaragua. Von Missbrauchsvorwürfen, vor oder während dieser Tätigkeit, habe er nichts gehört, sagt Hubert Tintelott, Generalsekretär des Internationalen Kolpingwerkes.

Im vergangenen Dezember ist S. regulär in Ruhestand gegangen. Seine Rückkehr nach Deutschland hat er in einem Schreiben an die Opfer für März angekündigt und ein persönliches Treffen angeboten. Eine Strafe hat er kaum zu erwarten, die bekannten Taten sind verjährt. Kurz vor seiner Abreise erlebte S. das Erdbeben in Chile. Teile der Wohnungseinrichtung sollen zu Bruch gegangen sein, die Familie sei aber wohlauf, heißt es aus dem Kolpingwerk.

Es ist nicht das erste Drama, das Wolfgang S. unbeschadet übersteht.

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