Türkei:"Unsere Triebe kann niemand kontrollieren"

Ein Skandal erschüttert die Türkei: Ein bekannter Islamist soll eine 14-Jährige missbraucht haben - udn brüstet sich mit seinen Amouren im Fernsehen.

Kai Strittmatter, Istanbul

Vakit ist die Zeitung der türkischen Islamisten: ein kleines Blatt mit einer Auflage von etwa 50.000 Stück, das sich in frommer Selbstüberschätzung gerne zum "Albtraum der Ungläubigen" erklärt. In Deutschland ist die Zeitung verboten, wegen ihrer antisemitischen Töne.

Türkei: Löste einen Gesellschaftsskandal aus: Hüseyin Üzmez.

Löste einen Gesellschaftsskandal aus: Hüseyin Üzmez.

(Foto: Foto: Hürriyet)

Vakit-Kolumnist Hüseyin Üzmez ist die graue Eminenz unter den islamistischen Schreibern, ein Mann, der seine Karriere vor gut einem halben Jahrhundert begonnen hatte - mit einem Mordanschlag auf einen liberalen Journalisten. Beendet hat er sie im April dieses Jahres. Da zeigte ein 14-jähriges Mädchen den 76-Jährigen an - wegen sexuellen Missbrauchs.

Selbst diejenigen, die die Unschuldsvermutung gelten lassen wollten, wunderten sich damals über die seltsamen Versuche der Frommen, einen der Ihren zu verteidigen: Vakit sah eine Verschwörung des mächtigen "Ergenekon"-Geheimbundes; eine Autorin islamischer Erbauungsliteratur vermutete, "Bruder Hüseyin" könne vor seinem schlimmen Tun unter Drogen gesetzt worden sein (ein Standardmotiv des türkischen Schmierenkinos aus den 70er Jahren). Die Ereignisse der letzten Tage nun brachten das Land erneut zum Kochen - und erstmals das muslimische Lager mehrheitlich gegen Üzmez auf.

Denn Ende vergangener Woche erfuhr die erstaunte Öffentlichkeit von der Entlassung Üzmez' aus der Untersuchungshaft. Der Anlass: Eine medizinische Untersuchung ergab, dass das Mädchen "körperlich und seelisch keine Schäden davon getragen" habe.

Die erste, die schockiert protestierte, war Familienministerin Nimet Cubukcu. Sie kündigte an, Einspruch gegen die Freilassung einzulegen. Dann taten sich die Frauen der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP in einem seltenen Akt der Unabhängigkeit von ihrer Fraktion zusammen und legten einen Gesetzesentwurf vor, in dem sie eine Verschärfung der Strafen für sexuellen Missbrauch forderten. Später wurde bekannt, dass das Attest innerhalb nur eines einzigen Tages angefertigt wurde und dass bei der Befragung der 14-Jährigen nicht einmal ein Kinderpsychologe anwesend war.

Der eigentliche Entrüstungssturm aber brach nach der Freilassung los. Hüseyin Üzmez stritt gar nicht ab, mit dem Mädchen geschlafen zu haben. Stattdessen marschierte er direkt in die Fernsehstudios, um seine Sicht der Dinge darzulegen. Zur Frage der Minderjährigkeit hatte der Greis etwa zu sagen, im Islam gelte jedes Mädchen, das menstruiere, als erwachsen. Auch bat er zu bedenken, dass ein Mann seines Formats nun einmal nicht unbehelligt über die Straße laufen könne: "Gymnasiastinnen, Frauen mittleren Alters halten an und küssen mich. Ich kann denen doch nicht sagen: 'Zeigt mir Eure Ausweise, ob Ihr schon 18 seid'".

Am nächsten Tag titelte auch die islamisch-konservative Zeitung Yeni Safak, die den Fall bis dahin ignoriert hatte: "Schäm' dich!" Üzmez dachte nicht daran: Wenn jemand Schuld habe, dann entweder "der Teufel" oder aber "die Triebe", die er als einen Teil von sich beschrieb, mit dem er quasi nichts zu tun habe: "Unsere Triebe führen uns zu Bösem, niemand kann die kontrollieren." Eine TV-Moderatorin, die ihm kritische Fragen stellte, erinnerte er vor laufenden Kameras daran, dass er auch schon "Journalisten angeschossen" habe.

Seine Zeitung hält unbeirrt zu ihm. Als Moderatorinnen einer Talkshow Üzmez auf dem Sender NTV angriffen, attestierte eine Vakit-Kolumne ihnen, sie hätten selbst nur "Gruppensex und Inzest" im Kopf. Sonst aber hat Üzmez kaum mehr Freunde. Ali Bardakoglu hat sich zu Wort gemeldet, der renommierte Theologe und Direktor des staatlichen Religionsamts: Er nennt Üzmez' Berufung auf den Islam "eine Schande". Bardakoglu sieht aber auch Positives in der Debatte: Immerhin diskutiere die Öffentlichkeit nun ausführlich über sexuellen Missbrauch.

Tatsächlich ist in der Türkei nicht die Gesetzeslage das Problem. Es ist das Patriarchentum in der Gesellschaft, das sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen begünstigt. Die Gesetze sind neu und gut, sie müssten bloß umgesetzt werden. Am Donnerstag lehnte das Gericht einen Widerspruch gegen die Freilassung Üzmez ab. Er bleibt bis zum Prozess im Dezember auf freiem Fuß.

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