Süddeutsche Zeitung

Doppeldeutigkeit:Die Türkei will kein Truthahn sein

Turkey heißt die Türkei auf Englisch, blöderweise genau wie jener Vogel, den die US-Amerikaner so gerne zu Thanksgiving verspeisen. Deswegen soll jetzt ein anderer Name her.

Von Violetta Simon

Die Fähigkeit, Worte zu erfinden und sich zu verständigen, macht den Menschen zu etwas Einzigartigem. Und auch sein Spiel mit der Mehrdeutigkeit. Welche Gattung im Tierreich würde sich Laute ausdenken, die exakt gleich klingen, aber völlig unterschiedliche Aussagen haben? Als Spinne müsste man sich beim Hinweis "Vorsicht, Fliege!" ja erst einmal überlegen, ob im nächsten Moment das Mittagessen angeflogen kommt oder einem eine bunt gemusterte Krawattenschleife das Netz zerreißt.

Muttersprachlern fällt die Verwendung solcher Begriffe im Alltag oft gar nicht auf, obwohl es durchaus einen Unterschied macht, ob eine Raupe durch den Garten krabbelt oder walzt. In der Regel wird durch den Kontext klar, worum es geht. Schwieriger wird es, wenn die Doppeldeutigkeit nicht in der eigenen, sondern einer anderen Sprache zum Vorschein kommt. Im englischen Sprachraum etwa denkt man beim Slogan "Hello Turkey!" womöglich erst mal gar nicht an die Türkei. Sondern geht davon aus, dass der freundliche Gruß einem Truthahn gilt.

Insofern kann man verstehen, dass der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nun fordert, sein Land künftig offiziell als "Türkiye" zu bezeichnen. Zu groß ist laut Staatssender TRT die Gefahr, mit einem "in Nordamerika beheimateten großen Vogel" verwechselt zu werden, also jenem domestizierten Hühnervogel, der jedes Jahr zu Thanksgiving gefüllt und gebraten auf dem Esstisch endet. Allein die Optik: leuchtender Runzelhals, ein roter Hautlappen zwischen den Augen, der quer überm Schnabel hängt. Und dann die Reste, die einen am nächsten Tag im Kühlschrank erwarten: cold Turkey? Danke, lieber nicht.

Vor den Vereinten Nationen hat die türkische Regierung jedenfalls bereits einen Antrag eingereicht, den die Versammlung nun auch akzeptiert hat. Es gibt dort jetzt vielleicht noch Turkey in der Kantine, aber kein Turkey in der Politik mehr.

Blüte oder Blüte, Akt oder Akt?

Damit schon Kinder mit dem Dilemma der Doppeldeutigkeit klarkommen, sobald sie der Lallphase entwachsen sind, wurde übrigens ein pädagogisch wertvolles Spiel namens "Teekesselchen" erfunden - im 19. Jahrhundert verstand man darunter nämlich nicht nur einen Behälter zum Wasserkochen, sondern auch einen unbeholfenen, schläfrigen Menschen. Bei dem Spiel muss ein sogenannter polysemischer Begriff beschrieben und von den Mitspielern erraten werden, etwa so: "Mein erstes Teekesselchen hat jeder Vogel. Mein zweites Teekesselchen steckt in einer Uhr." Lösung: Feder, klar.

So ist man dann ganz gut vorbereitet auf alle Eventualitäten dieses Lebens. Findet der nächste Akt auf der Bühne statt oder steht er frierend im Atelier herum? Hat einem der junge Mann eine Blüte angedreht oder zum Namenstag überreicht? Muss sich die Jugend nach der Decke strecken, weil das Geld knapp ist, oder weil der One-Night-Stand sich darin einrollt wie eine Kohlroulade?

Apropos Kohl: eine wichtige Kulturpflanze, zugleich aber auch ... ach, lassen wir das. Gedanken wie diese kann sich die Türkei künftig sparen, wenn sie kein Truthahn mehr ist.

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