Türkei:Missbrauchsskandal in regierungsnaher Stiftung versetzt Türkei in Aufruhr

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  • Ein 54-Jähriger steht im Verdacht, Dutzende Jungen missbraucht zu haben.
  • Sein Fall wird zum Politikum: Er soll für eine islamisch ausgerichtete Stiftung gearbeitet haben.
  • Sogar der türkische Staatschef hat sich eingeschaltet.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Aus Kindererzählungen werden Zeugenaussagen: "Er kam in der Nacht und zwang mich, mitzukommen", berichtet ein Junge. "Ich habe mich gewehrt. Aber er ließ nicht nach." Der Schüler musste demnach mit aufs Zimmer und sei dort von dem Mann, der sein Lehrer war, missbraucht worden. Als er endlich gehen durfte, habe Muharrem B. zu ihm gesagt: "Das bleibt unter uns."

Von zehn Opfern ist offiziell die Rede, aber es gibt Dutzende Verdachtsfälle

Das soll der 54-Jährige auch zu anderen Jungen gesagt haben, die er ebenfalls in der Nachhilfe-Schule zu sich geholt haben soll. Von zehn Opfern ist offiziell die Rede, aber es gibt Dutzende Verdachtsfälle. Viele der Jungen zwischen 14 und 16 Jahren wussten nach eigenen Angaben, dass auch Mitschüler betroffen waren. "Wir konnten aus Scham und Angst nur nicht darüber reden", sagt einer. Bis jetzt. Mittlerweile spricht die ganze Türkei über den Missbrauchsskandal aus der zentralanatolischen Stadt Karaman.

Es geht nicht um irgendeine soziale Einrichtung, die darin verwickelt sein soll, sondern um die islamisch ausgerichtete Ensar-Stiftung. Sie steht der türkischen Regierung nahe. Das macht aus diesem Fall ein Politikum, weil plötzlich schwerwiegende Fragen im Raum stehen: Wird die Ensar-Stiftung bei der Aufarbeitung des Verbrechens von den Behörden womöglich geschont? Haben die Behörden bei der Aufsicht weggeschaut? Und: Wer erzieht in der Türkei überhaupt die Kinder? Und in welchem Sinne?

Die AKP lenkte ein, weil der Druck zu groß wurde

Muharrem B. ist geständig. Noch in diesem Monat soll der Prozess gegen ihn wegen Kindesmissbrauchs in mehreren Fällen beginnen, berichten türkische Medien. Politisch wird der Fall längst verhandelt. Familienministerin Sema Ramazanoğlu etwa hat die Stiftung verteidigt. Ein einziger Vorfall könne nicht rechtfertigen, das Image einer Einrichtung zu beschmutzen, die gute Arbeit gemacht habe. Im Parlament zögerten die Abgeordneten der AKP, eine Untersuchungskommission einzurichten. Es kam sogar zum Streit im Parlament. Eine Abgeordnete der Opposition sagte: "Ich war so traurig, als ich die Akten las. Ich habe mich erst mal hingesetzt und geweint." Der Druck wurde schließlich so groß, dass die AKP einlenkte. Von Einigkeit ist trotzdem nichts zu spüren.

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"Was machen wir mit diesen politisch Perversen?", fragt Erdoğan

Oppositionsführer Kemal Kılıcdaroğlu hatte der Familienministerin vorgeworfen, sich schützend vor die Stiftung zu stellen. Er wählte aber eine Formulierung, die AKP-Politiker als sexistisch auslegten: Sie gebe sich der Stiftung hin. Jetzt schaltete sich sogar Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in die Debatte ein. Der "Perverse aus Karaman" sei im Gefängnis, sagte er und fügte türkischen Medien zufolge die Frage an: "Was machen wir mit diesen politisch Perversen?"

Aus dem Schmutzkampagnen-Vorwurf ist längst eine schmutzige Debatte geworden. Dabei ist die Auseinandersetzung jenseits der Missbrauchsvorwürfe über den Einfluss solcher Bildungsstiftungen auf die türkische Gesellschaft überfällig. Für die islamisch-konservative Regierung sind sie ein Machtinstrument. Erdoğans einstiger Verbündeter und heutiger Erzrivale, der Prediger Fethullah Gülen, hat vorgelebt, wie man mit einem Netzwerk aus Schulen und Universitäten die eigene Anhängerschaft in Schlüsselstellen der Gesellschaft bringt. Seitdem es zum Zerwürfnis kam, fürchtet Erdoğan dieses Netzwerk - und er bekämpft es.

Der Präsident will eine eigene "religiöse Generation" ausbilden. Erdoğan ist selbst auf eine der Imam-Hatip-Schulen gegangen, die früher die Aufgabe hatten, den Predigernachwuchs auszubilden, sich dann aber immer mehr zu allgemeinbildenden Schulen entwickelten. Die Ensar-Stiftung arbeitet ihnen zu. Die aktuellen Missbrauchsvorwürfe weist sie von sich. Der mutmaßliche Kinderschänder habe lediglich im Jahr 2013 fünf Monate lang für die Stiftung gearbeitet, heißt es. Damals seien keine Beschwerden bekannt geworden. Die Ermittlungen deuten darauf hin, dass sich der 54-Jährige Schülern jahrelang als Nachhilfelehrer andiente und sie dann missbrauchte. Unklar ist derzeit auch noch, ob die Stiftung in Karaman überhaupt ein solches Schülerheim betreiben durfte. Es hatte "inoffiziellen" Charakter, heißt es bei Beteiligten in der Stadt.

Aus Sicht der Rechtsexpertin Seda Akço Bilen ist genau dies das Problem: Niemand schaue genau hin. "Wir brauchen Kontrollen", sagte sie der Zeitung Hürriyet Daily News. Die Familien, die ihre Kinder zu solchen religiösen Stiftungen schicken, seien oft arm und vertrauten darauf, dass sie dort gut aufgehoben seien. Aber die Realität sehe manchmal anders aus.

© SZ vom 08.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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