Tsunami vor zehn Jahren:Wie ein Buch Leben rettete

Als vor zehn Jahren der Tsunami die Menschen überraschte und Hunderttausende mit sich riss, schuf die Katastrophe Geschichten von Schmerz und Leid. Aber es gab auch unfassbare Zufälle.

Von Kai Strittmatter, Khaolak

Am Morgen des 26. Dezember 2004, um 7.58 Uhr bebt vor der Küste von Sumatra die See. Etwas mehr als zwei Stunden später erhebt sich 800 Kilometer weiter nördlich bei strahlend blauem Himmel aus spiegelglatter See eine Welle von unvorstellbarer Zerstörungskraft. Am Strand von Khaolak, wo viele Schweden und Deutsche die Weihnachtstage verbringen, türmt sie sich zu einer Wand von elf Metern Höhe auf, an der Küste des indonesischen Aceh ist sie mehr als doppelt so hoch.

An diesem Tag nimmt die Welt das Wort Tsunami in ihren Wortschatz auf. Davor konnte die überwältigende Mehrzahl der Menschen in Deutschland, in Europa mit dem Begriff nichts anfangen. Sie hatten noch nie von jenem Naturphänomen gehört, das dem erdbebengeplagten Inselvolk der Japaner seit Jahrhunderten so vertraut war, dass sie es Tsunami tauften, "Welle im Hafen".

Als vor zehn Jahren der Tsunami in die Welt der Ahnungslosen einbrach und Hunderttausende mit sich riss, da schuf die Katastrophe Geschichten von Schmerz und Leid, von Hilfsbereitschaft und Solidarität. Es tauchten in ihrem Gefolge aber auch Erzählungen schier unfassbarer Zufälle auf.

"Wir haben geschrien 'Tsunami is coming'"

Die Geschichte der Deutschen Ines Reller zum Beispiel, die mit ihrem Ehemann im thailändischen Khaolak Urlaub machte, jenem Strand, jenem Ort, den die Welle komplett auslöschte und dabei den offiziellen Zahlen zufolge mehr als 4000 Menschen mit sich riss, in Wirklichkeit wohl viel mehr. Eine Geschichte, die das neue private Tsunami-Museum in Khaolak dokumentiert.

Ines Reller hatte sich als Strandlektüre den "Schwarm" mitgenommen, jenen Bestseller von Frank Schätzing, in dem ein thrillerdurstiges deutsches Publikum zum ersten Mal Tsunamis im Detail beschrieben sah. Ines Reller war so beeindruckt, dass sie mit ihren Bungalow-Nachbarn lange über Tsunamis diskutierte. Am Morgen des 26. saßen sie und ihr Mann dann mit eben jenen Nachbarn beim Frühstück, als sich mit einem Mal das Meer zurückzog. "I have never seen this", sagte der Nachbar. In dem Moment, schreibt Ines Reller ein paar Tage nach der Katastrophe, sei ihr klar geworden, dass sie dabei waren, Zeuge eines Tsunamis zu werden.

"Wir haben geschrien 'Tsunami is coming'". Sie rannten zu ihrem Moped, rasten "wie die Wahnsinnigen" landeinwärts, dabei allen Menschen "run, run!" zurufend. "Leider taten viele genau das Gegenteil. Sie flüchteten nicht, sondern liefen dem Meer hinterher." Die Rellers überlebten.

Oder die Geschichte mit der "Welle", dem berühmten Holzschnitt von Hokusai. Eine Geschichte, die die SZ ein Jahr nach dem Tsunami erstmals aufschrieb.

Die große Welle vor Kanagawa

Tsunami vor zehn Jahren: Hokusais "Welle" erschien im Unicef-Kalender ausgerechnet am Tag des Tsunamis.

Hokusais "Welle" erschien im Unicef-Kalender ausgerechnet am Tag des Tsunamis.

Die "Große Welle vor Kanagawa". Eine tosende See holt mit gischtgezeugten Tentakeln dazu aus, drei Fischerboote zu verschlingen und den Berg Fuji gleich dazu. Eine schäumende Gewalt, die sich über die Welt erhebt, sie Demut zu lehren. Die Menschlein ducken sich in den Booten, seltsam gefasst ihr Schicksal erwartend. Und über allem ungerührt ein sonnenbeschienener Himmel. Eines der größten Kunstwerke Japans. Geschaffen in den Jahren zwischen 1823 und 1830 vom Holzschneider Katsushika Hokusai, eine seiner "36 Ansichten des Berges Fuji". Keines von Hokusais Bildern erreichte größeren Ruhm, es ging in den Bildungs- und Bildschatz auch der Menschen in der westlichen Welt ein. Vincent van Gogh bewunderte es, Rainer Maria Rilke widmete Hokusais Fuji-Zyklus einst sein Gedicht "Der Berg".

Als im Sommer des Jahres 2002 eine Agentur in London daran ging, eine neue Ausgabe des Kunstkalenders für Unicef zu erstellen, für das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, da suchten sie wie jedes Jahr nach Motiven "die weltweit faszinieren und verständlich sind", wie ein Unicef-Mitarbeiter der SZ hernach sagte. Sie reservierten ein Blatt für Hokusais Welle. Der Kalender wurde weltweit verkauft, in Deutschland genau 5986 Mal.

Am 27. Dezember 2004, einen Tag nach dem Tsunami, traf der SZ-Reporter in Thailand ein, um zu berichten. "Wer von uns wusste schon wirklich, was das ist, ein Tsunami?", schrieb er in seiner letzten Reportage über den ausgelöschten Strand von Khaolak. Lediglich Hokusais "Welle", heißt es in dem Artikel, die sei manchem wohl vertraut, als Postkarte vielleicht, auch wenn die meisten wohl nicht wussten, was genau sie da auf dem Bild sahen.

Es dauerte ein paar Wochen. Dann kam der erste Leserbrief. Dann noch einer, Und noch einer. Und alle begannen mit den gleichen Worten: Sie werden es nicht glauben! "Ich kaufe den Kalender seit Jahren und führe dort Tagebuch", schrieb Barbara J.B. aus Dachau. Beim Nachtragen der Tage zwischen den Jahren dann, habe sie das entdeckt: Die "Große Welle vor Kanagawa". Im Kunstkalender von Unicef.

Zwischen den Seiten vom 26. und 27. Dezember 2004.

Ein Zufall, natürlich. Aber was für einer.

Sie bekomme, schrieb Frau B. damals, noch beim Schreiben dieser Zeilen eine Gänsehaut.

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