Tsunami-Überlebende:"Ich musste etwas tun, um zu vergessen"

Tsunami

Ninan Jantawong, genannt Nong, mit ihrem sechsjährigen Sohn.

(Foto: Privat)

Ninan Jantawong hat beim Tsunami ihre Kinder verloren, jetzt arbeitet sie in einem Waisenhaus. Richard Doring war gerade im Urlaub, viele seiner Hotelgäste in Khaolak starben 2004. Nun hat er ein Museum aufgemacht. Vier Tsunami-Überlebende erzählen.

Von Kai Strittmatter, Khaolak

Ninan Jantawong, genannt Nong, 38 Jahre alt, Angestellte im Waisenhaus Baan Tharn Namchai

"Als ich hierherkam, hatten die meisten Kinder fürchterliche Angst. Sie wollten weit weg von ihrem alten Zuhause. Auch den kleinen Kindern war klar, dass ihre Eltern tot waren. Sie wollten keine Minute alleine sein, wollten immer jemanden um sich herum haben. Wenn Schlafenszeit war, wollten sie nie ins Zelt - am Anfang war das hier noch ein Zeltcamp - sie wollten immer bei ihren Freunden sein, bei uns. Es kamen auch Psychologen, um zu helfen. Ich denke, bei den meisten dauerte es zwei Jahre, bis sie es akzeptierten.

Ich selbst habe auch meine Familie verloren. Meine Eltern, meinen Sohn, meine Tochter, meine Bruder, meine Schwester, meine Neffen, später haben sie alle sieben Leichen gefunden. Ich war mit dem Motorroller unterwegs zur Tankstelle, kam gerade zurück und sah, wie die Welle über unserem Haus zusammenschlug. Meine Kinder waren noch im Haus. Die Welle traf auch mich, umspülte mich und mein Motorrad. Ich wusste, meine Kinder waren tot. Ich erstarrte für einen Moment. Ich war mit einer Freundin zusammen. Sie schrie: Wir müssen weg! Wir können unsere Kinder nicht mehr retten.

Mein Sohn Pop war zehn, meine Tochter Bin, zwei Jahre alt. Später habe ich in den Ruinen unseres Hauses, unter all dem Sand, ihre Fotos gefunden, auch ein paar Kleidungsstücke. Schauen Sie, das Kleidchen auf dem Foto, das hatte sie auch am Tag ihres Todes an.

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Ein Foto der zweijährigen Bin. Ninan Jantawong hat es aufbewahrt.

(Foto: Privat)

Meine Freunde erzählten mir von dem Waisenhaus, überredeten mich, hier zu arbeiten. Sie sagten: Du hast deine Kinder verloren, Nong, kümmer dich doch um die Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Es ist gut für deine Seele. Ich war so traurig damals, ich weinte die ganze Zeit. Ich musste etwas tun, um zu vergessen. Und wirklich, meine Seele erholte sich hier.

Wir haben uns die ganze Zeit umarmt, ich und die Kinder, die auch alles verloren hatten. Viele Umarmungen. Sehr schön war das. Zwei Jahre lebte ich im Camp, schaute mir jeden Tag die Bilder an, weinte jeden Tag. Dann standen hier die Gebäude, ich bin hierhergezogen. Die Jeans meiner Kinder, ihre Unterwäsche, die Kleidchen meiner Tochter, die habe ich dann zurückgelassen. Ich habe nur die Fotos mitgenommen

Die erste zwei, drei Jahre hasste ich das Meer. Es hatte meine Familie getötet. Ich gehe nie mehr an den Ort zurück, wo unser altes Haus stand. Aber ich habe meine Angst verloren. Ich habe wieder geheiratet und einen Sohn, der ist jetzt sechs Jahre alt. Mein Ehemann ist Fischer, fährt jeden Tag aufs Meer. Aber nein, ich habe keine Angst um ihn, ich habe auch keine Angst mehr vor dem Wasser."

"Jedes dritte Kind Vollwaise"

Chatchada Kruakaew, Kunstlehrerin im Waisenhaus Baan Tharn Namchai, etwa 30 Kilometer von Khaolak entfernt

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Die Angestellten des Waisenhauses. Kunstlehrerin Chatchada Kruakaew (2. von rechts) steht neben dem Direktor.

(Foto: Privat)

"Unser Waisenhaus wurde damals auf Regierungsland gebaut für die Kinder, die beim Tsunami ihre Eltern verloren. Aber auch für jene, bei denen die Eltern noch lebten, sich aber nicht um sie kümmern konnten, sie hatten alles verloren: Haus, Arbeit, Einkommen. Das waren sogar die meisten. Von den mehr als 100 Kindern zu Beginn war jedes dritte Vollwaise. Es waren Kinder von zwei bis 18 Jahren.

Die Bilder habe ich mit ihnen nach der Katastrophe gemalt. Das Malen war Therapie. Die meisten wollten nicht darüber sprechen, was geschehen war, aber malen, das konnten sie. Auch die Angestellten hier haben Angehörige verloren. Selbst wenn man frägt, erzählen die meisten nichts. Sie reden nicht gerne darüber, es schmerzt noch immer.

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Im Waisenhaus haben Kindern, die ihre Eltern verloren haben, in den Monaten nach dem Tsunami Bilder gemalt.

(Foto: Privat)

Heute leben in dem Waisenhaus 95 Kinder, aber nur mehr ein einziges von damals, vom Tsunami. Die meisten haben ihren Abschluss gemacht, haben nun einen Beruf, ein paar sind sogar an die Universität gegangen, möchten Lehrer werden. Viele wurden von ihren Familien wiedergeholt, als es ihnen besser ging: so fünf, sechs Jahre nach dem Tsunami hatten sie wieder Arbeit und ein wenig Geld.

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Der Tsunami aus der Sicht eines Waisenkindes.

(Foto: Privat)

Die Gegend hier hat sich eigentlich wieder gut entwickelt. Die Touristen sind zurück, die Fischer fischen wieder. Aber neben den Waisen haben wir auch heute Kinder aus kaputten Familien. Arbeitslosigkeit und Drogen sind ein Problem in der Gegend."

"Wir waren damals ausgebucht"

Pisit Hiranpiwong, Architekt und Manager eines Resorts am Nangthong-Strand in Khaolak

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"Eine deutsche Mutter hat sich einen Baum gesucht, den schmückt sie jedes Jahr neu für ihren Sohn Tim, der hier ums Leben gekommen ist."

(Foto: Privat)

"Wir hatten erst 2001 eröffnet. Mein Vater verdiente einst sein Geld mit Holz, Geld, das er in das Hotel steckte. Als der Tsunami unser Resort zerstörte, verlor mein Vater sein ganzes Vermögen. Aber wir hatten Glück, er besaß noch Kautschukplantagen. Und die Kautschukpreise gingen hoch in den Jahren nach dem Tsunami, so erholten wir uns wieder. 2010 dann bauten wir das Resort neu.

Einer meiner Gäste hat ein Fotobuch gemacht über die Zerstörungen hier und den Wiederaufbau. Wenn mich Gäste nach dem Tsunami fragen, dann zeige ich ihnen einfach das Buch. Ich will eigentlich nicht über den Tsunami reden. Das heißt nicht, dass ich das Unglück vergessen möchte. Nein, ich vergesse niemals. Aber ich möchte nicht, dass Leute mit mir Mitleid haben. Man hat immer das Gefühl, man müsse den Leuten beweisen: Wir sind mutig, wir haben Kraft Aber der Tag damals zeigte, wer stark war und wer nicht. Ich war stark genug, um den Tag zu überwinden und weiterzumachen.

Wir waren damals ausgebucht. Es war Hochsaison. Alle 35 Zimmer und Bungalows voll. Es war komplettes Chaos an dem Tag, ich weiß bis heute nicht, wer alles gestorben ist damals. Wir verloren alles an dem Tag, auch unsere Computer, unsere Datenbank. Ich selbst fand zwei Leichen an dem Tag. Ich verlor keine Angehörigen, nein, aber viele meiner Angestellten. Die Überlebenden sind dann weggegangen, sie wollten nicht wiederkommen.

Wir vermieten auch jedes Jahr drei oder vier Bungalows an Gäste, die den Tsunami hier mit uns erlebt haben und immer wieder kommen. Eine deutsche Mutter, die bei uns wohnt, hat sich am Strand da unten einen Baum gesucht, den schmückt sie jedes Jahr neu für ihren Sohn Tim, der hier ums Leben gekommen ist. Fünf Jahre alt war Tim.

Nein, ich habe keine Angst hier. Mein Vater, der schon ein wenig. Er fürchtet um mich und um meinen Bruder, der jetzt auch hier arbeitet. Wir hätten auch verkaufen können: Die große Baustelle um uns herum, das ist ein Thai, der ein Hotel hochzieht, das einmal das Holiday Inn werden soll: 200 Zimmer. Der hat alles Land um uns herum gekauft, bot auch uns Geld. Aber wir lehnten ab. Wir wollen solche Gäste nicht. Ich will eine persönliche Beziehung zu meinen Gästen. Ich liebe die Ruhe und den Frieden hier am Strand. An dem Tag, an dem die Bananenboote hierherkommen nach Khaolak, all der Rummel, die Bars, die es jetzt schon auf Phuket gibt, an dem Tag werde ich zu meinem Vater sagen: Verkauf! Letztes Jahr wollten schon ein paar Hotels das einführen, aber sie wurden von den anderen überstimmt.

An anderen Teilen des Strandes, da wo das Meer sich von Jahr zu Jahr ins Land reinfrisst, da füllen einige reiche Hoteliers das Meer mit Erde. Ich finde das nicht gut: Wenn du dich gegen das Meer stellst, dann wird es sich zurückholen, was ihm gehört. Sie bauen sich Wände, Mauern am Strand, meterhoch, um ihr Land zu schützen. Ich finde: Lass der Natur ihren Lauf, behandele sie gut, dann wird das schon. Aber viele haben einfach ihre Bungalows zu nah an den Strand gebaut.

Trotzdem, ich bin optimistisch: Wir werden hier kein zweites Phuket, solange es hier am Nangthong-Strand noch kleine Familienunternehmen gibt. Wir müssen aber aufpassen, dass sich der Charakter von Khaolak nicht zu sehr ändert. Ich stamme eigentlich aus Bangkok, aber Khaolak ist jetzt meine Heimat. Ja, am liebsten möchte ich mein ganzes Leben hier verbringen."

"Ein schlechtes Gewissen hatten wir alle"

Richard Doring, Reisebuchautor, Pensionsbesitzer und Mitgründer des neuen kleinen Tsunami-Museums in Khaolak

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Richard Doring auf dem Grundstück seines "Sita-Garden".

(Foto: Privat)

"Das war 1986, als ich Khaolak entdeckte. Ich und meine Frau waren mit dem Wohnmobil unterwegs. Damals gab's hier nur ein paar Hütten in den Cashew-Plantagen. Und nachts bekam man kein Auge zu wegen des Badumm, Badumm der großen Zinnschiffe, die draußen auf dem Meer den Sand vom Meeresboden saugten und ihn zermahlten, um Zinn zu gewinnen. Deshalb ist der Sand hier übrigens auch so fein: Hier ist jedes Korn einst durch die Zinnschiffe gegangen. Damals dachte ich: Das wird nie etwas, touristisch. Kurz danach erwähnte ich Khaolak das erste Mal in dem Loose-Thailand-Reiseführer, den ich schrieb. Mit dem Tourismus ging es richtig los, als Ende der 1990 Jahre während der Asienkrise die Zinnindustrie kollabierte.

Dann ging alles ganz schnell. Die Zinnbarone kauften der Regierung das Land ab. Manche verkauften es weiter, andere bauten selbst erste Ressorts. In meine kleine Bungalow-Anlage, Sita-Garden am Bangniang-Strand, zogen im Dezember 2002 die ersten Gäste ein. Zwei Jahre später, als der Tsunami kam, waren wir die vielleicht am rasantesten wachsende Tourismus-Region in Thailand. Jedes Jahr kamen 30 Prozent mehr Gäste. Khaolak boomte.

Ich und meine Frau, wir waren nicht vor Ort am 26. Dezember 2004, wir machten Urlaub in Laos, eine Schifffahrt auf dem Mekong. Ich flog dann aber sofort zurück. Von meinem Haus stand nur noch das Betonfundament, alles darüber war wie mit der Rasierklinge abrasiert. Ein Audi-Manager aus Ingolstadt und seine Familie hatten das Haus gemietet, man fand kurze Zeit später ihre Leichen. Ich habe sofort ein paar Leute organisiert, wir versuchten zu helfen: Listen der Überlebenden zu schreiben, Tausende von Emails aus Deutschland beantworten, Spenden verteilen, sowas.

Viele der Leute hier verließen Khaolak danach. Ich selbst hatte eine kleine Agentur, eine Webseite, über die wir Buchungen nach Khaolak vermittelten. Wir hatten zu dem Zeitpunkt 139 Gäste auf unserer Buchungsliste, 57 davon waren tot. Eine meiner Mitarbeiterinnen kündigte hernach. Sie sagte, sie ertrage es psychisch nicht mehr, nach dem Tsunami noch Menschen nach Khaolak zu schicken. Ein schlechtes Gewissen hatten wir alle: Wir wollten immer die Familien in Khaolak haben. Die Strände hie sind wie geschaffen für Kinder. Wir haben um sie geworben. Und dann kamen so viele Kinder ums Leben.

Ich selbst dachte nicht eine Sekunde: Das ist das Ende. Ich dachte immer ans Weitermachen. Das war auch die Reaktion vieler Deutscher. Nach dem ersten Schmerz kamen bald Emails: Gebt nicht auf! Macht weiter! Wir kommen wieder! Bei vielen Leuten hier hat der Tsunami die Lebensplanung komplett durcheinander geworfen. Es gab in den Jahren danach große Arbeitslosigkeit, es gab Selbstmorde, Kindesmisshandlungen. Viele hier haben das Unglück nicht verkraftet. Ich habe Ehen unter befreundeten Thais auseinandergehen sehen. Letztlich haben auch meine Frau und ich uns deshalb getrennt. Wir verstanden uns nicht mehr. Ich war in diesen Wochen, in diesen Monaten endgültig ein Teil von Khaolak geworden.

Khaolak hat sich wieder erholt, es wächst schnell. Als der Tsunami zuschlug, gab es in Khaolak unserer Zählung nach 78 Ressorts. Heute sind es schon mehr als 200. Allein in der vergangenen Woche eröffneten drei neue Pensionen. Ja, es gibt einen Trend zu großen Ressorts. Klar, die Banken hatten damals Angst um ihr Geld. Sie haben keine Kredite mehr vergeben an kleine Bungalow-Anlagen, sie wollten nur noch große Hotelanlagen finanzieren. Das verändert natürlich den Charakter eines Ortes.

Jetzt hat die Regierung auch noch viele der kleinen beliebten Strandlokale schließen lassen, weil es Schwarzbauten waren. Ich bin gespannt, was die Gäste sagen. Manche werden vielleicht sagen: Ich komme nicht mehr. Dafür kommen andere. Im Moment haben wir jedes Jahr 20 Prozent mehr Gäste in Khaolak. Unsere Webseite wollen wir jetzt auch auf Russisch übersetzen, um Russen werben. Viele Russen sind ganz anders als ihr Ruf, ich hatte schon ganz feine russische Familien zu Gast in Sita-Garden.

Ich und ein Freund haben gerade oben an der Hauptstraße ein kleines Tsunami-Museum eröffnet. Wir wollen daran erinnern, was vor zehn Jahren hier geschah. Nicht alle wollen das, manche würden das Wort Tsunami am liebsten vergessen machen. Wir haben im Vorraum des Museums Tafeln aufgehängt, lokale Hotels und Unternehmen sollten sich selbst vorstellen. Aber kaum einer wollte mitmachen. Eine mit mir eigentlich befreundete Hotelmanagerin wurde ganz eisig, als ich ihr die Idee vorstellte. Verstehst Du nicht?, sagte sie. Wir wollen das nicht, wir wollen das vergessen."

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