Süddeutsche Zeitung

Tropensturm "Irene" trifft New York:"Stehe ich hier richtig an für die Apokalypse?"

Ein Bürgermeister, der alle Register zieht, um die Bewohner seiner Stadt sturmreif zu machen, Händler, die Batterien zu Rekordpreisen verkaufen und eine Rentnerin, die ihre Nachbarn mehr fürchtet als "Irene": New York hat sich für einen gewaltigen Sturm gerüstet, doch der kam nicht. Eindrücke aus der Millionenmetropole.

Christian Wernicke

Am Morgen um halb neun ist die Flut da. Unten im Battery Park, am Südzipfel von Manhattan, schwappt die graue Brühe knöchelhoch über den Kai, und einen halben Kilometer weiter nördlich läuft der Keller des Verizion Buildings voll. Aber sehr viel mehr Schaden, so scheint's, hat Irene nicht anrichten können im Herzen der Weltmetropole.

New York hatte sich für ein Armageddon gerüstet. Für "Irenegeddon". Nun, da die Pegel gegen Sonntagmittag langsam wieder sinken und der Himmel aufklart, atmen alle auf. Die U-Bahn-Schächte sind nicht abgesoffen, die Wall Street blieb verschont. "Lady Liberty", das Fährboot, liegt sicher vertäut am Ufer, und auch die Kräne über Ground Zero, wo die Stadt in exakt zwei Wochen ihres Traumas - des 11. September 2001 - gedenken wird, trotzen stolz dem bisschen Wind, das von Irene noch übrig ist.

Seit Donnerstag hatte Bürgermeister Michael Bloomberg alle Register gezogen, um seine New Yorker sturmreif zu bekommen. 370.000 Bürger erhielten - per Lautsprecherdurchsage und Flugblatt - die Nachricht ihrer Zwangsevakuierung. Und der Stolz der Stadt, die weltgrößte U-Bahn - 840 Meilen Gleise, 468 Stationen, sechs Millionen Passagieren täglich -, wird ab Samstagnachmittag präventiv stillgelegt. Stattdessen fahren mehr gelbe Taxis durch leere Straßen, mit Sonderrabatten in Krisenzonen.

Vorsicht statt Nachsicht, das ist New Yorks Motto. Mayor Bloomberg rüstete auf, auch rhetorisch: "Ab Montag können wir Witze machen - aber bis dahin ist dies eine Sache von Leben und Tod!" Der Bürgermeister mutiert zum allseitigen Lebensberater, rund um die Uhr.

Mit heiserer Stimme und müdem Blick trat Bloomberg noch einmal kurz vor Mitternacht vor die Kameras, für die nächste Lagemeldung: Nun, da Irene unmittelbare vor den Toren steht, sei es zu spät zu fliehen. "Jeder sollte drinnen bleiben, bis das Wetter besser wird. Jetzt müssen damit umgehen, was uns Mutter Natur bringt." Letzter Rat: "Geht weg von den Fenstern!" Zornesröte steigt in seinem Gesicht auf, als er kurz von den beiden Kajak-Freaks erzählt, die am Samstagabend vor Staten Island paddelten, in den hohen Wellen kenterten - und von der Polizei aus dem Wasser gezerrt werden mussten. Wer so agiere, gefährde nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Retter.

Aber das sind die verrückten Ausnahmen von der Regel. Die meisten New Yorker - unter ihren Landsleuten ansonsten verschrien für ruppiges Selbstbewusstsein und sture Arroganz - erweisen sich als brave, folgsame Untertanen. Sie reihen sich ein in die zweihundert Meter lange Schlange draußen vor dem Supermarkt, beweisen Humor: "Stehe ich hier richtig an für die Apokalypse?" Niemand vermeldet Handgreiflichkeiten im Ringen um Trinkwasser, Milch oder Kerzen.

Warten auf Irene: Der Chinese an der Ecke zockt seine Kunden ab, macht Rekordumsätze mit Batterien (zwei Stück für zwei Dollar) und schäbigen Taschenlampen (das Stück zu $ 7,25). Die Rolle Klebeband kostet am Samstagnachmittag, zwölf Stunden vor der mutmaßlichen Katastrophe, plötzlich vier Dollar. Nicht mal das alte Preisschild ($1,75) hat der Händler abgemacht.

Drüben an der Ecke kracht's - ein Autounfall. Schwere Blechschäden, mehr nicht. "Die Leute sind nervös, Irene lenkt ab", sagt der Polizist. Fünf Straßen weiter fahren drei Feuerwehrwagen in der engen Mott Street vor. Hier im Zentrum von Little Italy sind alle Restaurants längst verrammelt. Kein Wassereinbruch, es brennt nirgendwo, Fehlalarm. Ein Dutzend Touristen hat Kameras und Telefone gezückt, fürs Erinnerungsfoto mit Irene und einem lächelnden Feuerwehrmann.

Die Disziplin der New Yorker hält bis zum Sonntagmorgen. Während Irene mit Windböen von 140 Stundenkilometern durch Manhattans Häuserschluchten wütet, sieht man nur Polizei und Feuerwehr auf der Straße. Keine Gaffer, wohl aber Journalisten. CNN-Starreporter Anderson Cooper, katastrophengestählt seit dem Katrina-Inferno von 2005 in New Orleans, steht im Morgengrauen enttäuscht im Schlagregen: "Das ist doch kein Hurrikan, oder?"

Lucy Alford hat gleichwohl kein Auge zugekriegt in der Nacht zum Sonntag. Die 84-jährige Dame ist stolze New Yorkerin, seit ihrem 12. Lebensjahr hat sie im Akkord genäht und gestickt, nun lebt sie mit kleiner Rente in einem hässlichen Wohnsilo unten am East River. Ihr Hochhaus steht in Zone A, in Bloombergs Evakuierungszone. Also hat Lucy am Samstag ihre große beige Handtasche gepackt und sich in einem Schulbus in die Seward Park High School fahren lassen - in die Notunterkunft.

Lucy ist genügsam, freut sich über den Beutel mit Zahnbürste, Seife und Babypuder, den ihr "das nette Fräulein vom Roten Kreuz" überreicht. Und doch plagt sie die Angst - nicht vor Irenes Einfall in die Stadt, sondern vorm Einbruch der Nachbarn in ihre Wohnung: "Bei mir auf dem Flur leben Typen, die mit Drogen handeln", sagt sie und wischt sich Schweiß von der Stirn, "die wollen seit langem da rein."

Im Gang auf der zweiten Schuletage, gleich neben der Tür und unter dem Schwarzen Brett, hat Lucy ihr Bett gefunden. Es ist nur eine Klappliege, dazu gibt's eine blaue Baumwolldecke, kein Kopfkissen. Die Luft ist stickig, draußen prasselt warmer Regen auf ein Blechdach, der Dunst zieht durchs Fenster ins Haus. Hier in der Lower East Side lebt ein so buntes wie armes Volk: viele Afro-Amerikaner, Latinos, Bürger asiatischer Abstammung. Rechts neben Lucy schnarcht ein Chinese im gerippten Unterhemd, weiter hinten verwandeln drei Kinder ihre Liege hüpfend in ein Trampolin.

Als am Samstagnachmittag plötzlich der Regen aufhört und sogar der Himmel für eine Stunde aufklart, will Lucy prompt nach Hause. Lisa, die Rot-Kreuz-Helferin, beruhigt sie: "Besser, Sie sind hier sicher, als Sie gehen heim und es tut Ihnen später leid!" Das ist haargenau dasselbe, was vorhin der Bürgermeister gesagt hat. Lucy nickt, sie bleibt.

Lisa arbeitet samstags eigentlich am Broadway. Sie ist Bühnen-Managerin ("Ich kenne Stress und weiß was von Organisation"), aber wegen Irene fallen alle Vorstellungen aus. Also hilft sie im Lager aus, hetzt hinunter in die Aula, wo die Neuankömmlinge hocken. Vorn steht ein Fernseher, auf dem Bildschirm flimmern Bilder von Verwüstungen, die Irene 300 Meilen südlich anrichtet. Das Dauerchaos macht müde, in der ersten Reihe haben Mutter und Kind ihre Köpfe auf den Koffer gelegt und sind eingenickt. Lisa weckt sie, weist den beiden ein Bett im vierten Stock zu. Sie ahnt: "Unsere Plätze hier werden nicht reichen."

Nebenan in der Sporthalle herrscht erstaunliche Stille, hier hausen die Schlauberger: Drei Studenten, die ihren PC und eine Handvoll Spielfilme auf DVDs dabei haben, ein grauer Herr im Trainingsanzug hat sich mit Buch und iPod gegen die Langeweile im Lager bewaffnet. Hinten in der Ecke liegt ein vergilbter Wälzer unterm Kissen: Vom Winde verweht.

Und während Irene verweht, hebt Bürgermeister Bloomberg seine Evakuierungsverordnung noch am Sonntag auf.

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SZ vom 29.08.2011/holz
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