Etwa 100 Männer und einige wenige Frauen haben sich unter dem Vordach einer öffentlichen Toilette versammelt und beten mit gesenkten Köpfen. Es ist kurz vor sieben Uhr morgens, auf einem Parkplatz in Humble, rund 40 Kilometer nördlich des Zentrums von Houston, Texas. Wenn es nicht in Strömen regnen würde, dann wäre jetzt so etwas wie Morgendämmerung.
Der Vorbeter, ein Mann in gelbem Ölzeug, steht auf einem Campingtisch: "Wir danken dir, Gott, dass du uns die Gelegenheit gibst, den Menschen zu helfen, die hier in Not sind. Wir sind in deiner Hand, Herr. Wir bitten dich, dass du uns sicher zurückbringst. Wir verrichten Jesu Werk in deinem Namen. Amen."
Tropensturm Harvey:Behörden gehen von 30 Toten durch Tropensturm Harvey aus
Seit Freitag sind in der Gegend von Houston insgesamt 125 Zentimeter Regen gefallen. Eine Ausgangssperre soll Plünderungen der evakuierten Häuser vorbeugen.
Sofort nach Ende des improvisierten Gebets bricht leichtes Chaos aus. Die Gruppen eins bis sechs der "Cajun Navy" wissen bereits, wo ihr Einsatzgebiet ist. Die Führungsriege hat seit einer Stunde mit der örtlichen Polizei beratschlagt, wohin die Behelfsmarine ausrücken soll. Jetzt soll es schnell gehen. Menschen laufen zu ihren Autos, überwiegend große Trucks. Im Schlepptau jeweils: ein Fischerboot mit Außenbordmotor.
Cajuns heißen die Bewohner Süd-Louisianas, südwestlich von New Orleans. Sie gelten als Nachfahren der Franzosen, die von den Briten aus Kanada vertrieben wurden. In Deutschland würde eine Truppe wie die "Cajun Navy" wohl gründliches Misstrauen erregen. Viele Mitglieder der "Navy" tragen Kleidung mit militärischem Flecktarn-Muster, einige haben deutlich sichtbar eine Waffe am Gürtel. Alle kommunizieren über eine Walkie-Talkie-App und benutzen dabei Polizeicodes: "10-4" heißt "Okay". "What's your 20?" - "Wo bist du?" Die "Navy" wirkt wie eine Miliz - und irgendwie ist sie das auch. Doch hier im Süden der USA sind die Männer und Frauen schon Helden, bevor sie die ersten in den Wassermassen eingeschlossenen Menschen gerettet haben.
Harvey, so viel ist jetzt schon klar, ist ein Jahrhundertsturm. Einige Meteorologen bezeichnen ihn gar als Jahrtausendsturm. Noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen fiel in so kurzer Zeit so viel Regen irgendwo in Nordamerika. Laut einem Bericht der Washington Post waren zeitweise 30 Prozent des Stadtgebiets von Houston mit Wasser bedeckt, die viertgrößte Stadt der USA glich einem Archipel. Bis das Ausmaß der Schäden sichtbar wird, dürfte noch einige Zeit vergehen. Bislang gehen die Behörden laut New York Times von 30 Toten aus. Doch es steht zu befürchten, dass diese Zahl weiter steigt.
Der 51-jährige Lee Mouk hat spontan die Einsatzleitung von Gruppe zwei übernommen. Mouk ist mittelgroß, zurückhaltend aber bestimmt, sein silbergraues Haar versteckt er unter einer orangenen Baseball-Kappe. Eine Autoritätsperson Typ Geschichtslehrer. Seine Gruppe ist unsicher: Sie sollen mit fünf Booten nach Katy im Westen von Houston aufbrechen. Treffpunkt dort: eine Grundschule, von der aus die Polizei Einsätze in ein völlig überschwemmtes Wohngebiet organisiert. 40 Kilometer sind es bis nach Katy. Einige zweifeln, ob es die Trucks es überhaupt bis dorthin schaffen werden, ohne die Boote zu Wasser zu lassen.
Google Maps hilft in einer überfluteten Stadt voller Straßensperren kaum weiter. Glücklicherweise hat einer aus der Gruppe häufig beruflich in Houston zu tun, er kennt Straßen, auf die der Konvoi ausweichen kann, wenn das Wasser selbst für die großen Trucks der "Cajun Navy" zu tief wird. Eine gute Stunde später lassen die ersten "Navy-Mitglieder" ihre Boote zu Wasser.
Lee Mouk, der Kapitän des Rettungsboots und Einsatzleiter von Gruppe zwei, ist erst seit drei Tagen Mitglied der "Cajun Navy". Er hat, wie viele andere auch, über Facebook von der Mission erfahren. Seine Frau hat Freunde in Houston, also schickte sie ihn los, um den Leuten in Texas zu helfen. Lee wollte schon vor einem Jahr bei einer ähnlich großen Flut in Louisiana mit seinem Boot losziehen. Doch damals war der Motor kaputt. Diesmal ist das Boot einsatzbereit. "Ich habe natürlich letztes Jahr auch geholfen: Sandsäcke füllen, Häuser ausräumen und später dann kaputte Häuser abreißen. Aber das hier ist viel besser. Jetzt kann man noch wirklich etwas verbessern", meint Lee. "Außerdem hat meine Frau gesagt, jetzt hätte ich endlich mal eine gute Ausrede für eine Bootstour."
Das sahen offenbar viele Bootsbesitzer ähnlich. Nur wenige Stunden nach dem Aufruf der "Cajun Navy 2016" brach die Miniaturmarine, deren Mitglieder sich selbst als Sumpf-Rednecks (Coonasses) bezeichnen, von einem Supermarkt in Baton Rouge, der Hauptstadt des Nachbarstaats Louisiana auf: 100 Männer, ein paar Frauen. Wichtiger jedoch: die über 50 Boote und die Tonnen an Reis, Wasser in Plastikflaschen und anderen Sachspenden, die sie in der Umgebung eingesammelt haben. Mission: Leben retten.
"Mir ist kalt", klagt die elfjährige Ava Hamdhaider, als sie erschöpft in Lee Mouks' Boot klettert. Ava, ihre siebzehnjährige Schwester Pani und ihr Vater Kamran harren erst seit wenigen Minuten im Wasser aus, das vor ihrer Wohnung mehr als einen Meter hoch steht. Aber Tropensturm Harvey hat nicht nur die größte je in den USA gemessene Niederschlagsmenge mitgebracht, sondern auch eine vergleichsweise starken Wind und kühle Temperaturen. Zeitweise hat es nur etwa 20 Grad, Temperaturen, die im August in Texas niemand erwartet.
Ava, Pani und Kamran Hamdhaider sind nur drei von Dutzenden von Personen, die aus ihrem Appartementkomplex in Katy gerettet werden mussten. Bis Montagmorgen sei noch alles in Ordnung gewesen in ihrer Gegend, berichtet Vater Kamran, dann war es plötzlich zu spät, um noch zu entkommen.
Ähnlich erging es auch Isabel und John Herrera. "Bis gestern haben wir überhaupt nichts gehört von Offiziellen, und jetzt heißt es auf einmal, dass alle raus müssen." Doch das junge Ehepaar nimmt die Evakuierung gelassen. Ihre Wohnung liegt im zweiten Stock, sie können bei Johns Eltern in der Stadt unterkommen. Deutlich weniger entspannt wirken ihre beiden Hunde Max und Daisy, als ein weiterer Helfer der "Cajun Navy" sie ins Boot hievt. Das rettende Ufer ist nur etwa eine halbe Meile entfernt - aber ohne Boot für viele unerreichbar. Alte, Kranke, Familien und Tiere werden einer nach dem anderen gerettet.
Im Boot der "Cajun Navy" erzählen die Geretteten, sie hätten gehört, dass eine Entscheidung der Behörden der Grund für den plötzlichen Einbruch der Wassermassen in ihrem reichen Vorort war: Angeblich wurde Wasser aus einem Reservoir in der Nähe abgelassen, um andere Gebiete zu schützen. Wie plötzlich das Wasser gekommen sein muss, davon zeugt ein weißes Auto, das ordentlich geparkt vor einem mexikanischen Restaurant steht. Das Wasser schwappt über das geöffnete Beifahrerfenster in den Innenraum. Der Insasse muss das Auto überstürzt verlassen haben - der Scheibenwischer wischt noch immer unbeirrt hin und her.