Süddeutsche Zeitung

Tragödie:Telefonüberwachung direkt aus der Hölle

Die Bande, die im August 2015 insgesamt 71 Menschen in einem Lkw ersticken ließ, wurde von der Polizei abgehört.

Von Ralf Wiegand

Die Hölle auf Erden, wie soll man sich die vorstellen? Vielleicht als schlimmste aller Ängste. Als Angst, lebendig begraben zu werden zum Beispiel. Vielleicht ist die Hölle aber auch der Moment der letzten Erkenntnis, dass es kein Entrinnen gibt.

Für 71 Menschen, die am 26. August 2015 die letzte Etappe auf ihrer Reise in die Freiheit antraten, gab es kein Entrinnen mehr, als sich die Türen eines Kühllasters hinter ihnen schlossen. Sie stammten aus dem Irak, aus Syrien, Iran und Afghanistan, und sie wollten als Flüchtlinge nach Deutschland. Skrupellose Schleuser pferchten sie im Frachtraum eines Lastwagens ohne Belüftung, ohne Licht und ohne Fenster zusammen und fuhren mit ihnen von Ungarn Richtung Österreich, bis alle erstickten. Kurz nach der Grenze ließen sie den Lkw einfach auf der Autobahn stehen.

Es war eines der verstörendsten Bilder des Sommers 2015, des Sommers der großen Flucht - und es hätte, so ergaben Recherchen von NDR, WDR und SZ, womöglich verhindert werden können. Denn die Polizei in Ungarn hatte die Bande schon länger auf dem Schirm, sie nahm ihre Telefonate auf - und sie hatte auch die verhängnisvolle Schleuserfahrt in den Tod auf Band.

Die Abschrift der Gespräche, die der SZ vorliegt, ist ein Dokument des Schreckens. Der Fahrer des Todes-Lkw schildert immer wieder die Schreie und das Klopfen der Menschen im Laderaum, "sie schreien einfach die ganze Zeit, du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier los ist, wie sie schreien". Einem der Begleiter ist vollkommen klar, woran das liegt: "Ich denke, dass sie keine Luft bekommen." Trotzdem öffnen sie die Türen zum hermetisch abgeriegelten Laderaum nicht, versorgen stattdessen das Fahrzeug mit Kühlerwasser - Luft für die Flüchtlinge gibt es nicht. "Nein, nein, nein, nein! Das geht nicht, dass er die Tür aufmacht", sagt einer der Drahtzieher, "wenn er die Tür aufmacht, werden alle rauskommen." Und dann dieser Satz: "Er soll ihnen sagen, dass er die Türen nicht öffnen kann, auch wenn sie sterben sollen." Das Schluchzen der Frauen, das Weinen der Kinder - alles haben die Schleuser mitbekommen, und nichts hat offenbar ihr Herz erweicht oder ihr Gewissen geweckt. Geld für den Auftrag bekommen solche Leute, die in der Schleuser-Pyramide weit unten stehen, wenn sie die "Fracht" abliefern. Wenn sie erwischt werden, droht statt Geld Gefängnis. Kassiert haben längst andere von den Menschen in Not, und zwar vorab.

Die Schleuserbande soll insgesamt für mehr als 30 Menschentransporte verantwortlich sein. Gegen elf Angeklagte beginnt am kommenden Mittwoch im ungarischen Kecskemét der Prozess, alle sind wegen Bildung eines kriminellen Netzwerks angeklagt, die vier Haupttäter, die der Todesfahrt vom 26. August 2015 beschuldigt werden, zusätzlich des Mordes. Für sie fordert die Staatsanwaltschaft lebenslänglich. Vor allem der mutmaßliche Kopf der internationalen Schleuser in Ungarn, der Afghane Samsoor L., 31, zeichnet sich den Telefonaufzeichnungen nach durch besondere Grausamkeit aus. Er lacht sogar noch, als er den Flüchtlingen den Tod wünscht. Wenn ein solcher Tod, wie ihn die Flüchtlinge erleiden mussten, die Hölle ist - dann wäre Samsoor L. so etwas wie der Teufel.

Der ungarische Staatsanwalt Gábor Schmidt beteuert, dass der Tod der 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder trotz der Telefonüberwachung nicht zu verhindern gewesen sei. "Wenn die ungarischen Behörden die Chance gehabt hätten, diese furchtbare Tat zu verhindern, man hätte das getan", sagte er auf Anfrage. Die Telefonate seien nicht live überwacht worden, sondern wegen der vielen Sprachen - die Täter redeten untereinander serbisch, bulgarisch und arabisch - erst nachträglich ausgewertet worden. Aufgrund vorheriger Fahrten, von denen die Ermittler Kenntnis hatten und bei denen keine Lebensgefahr für die Migranten bestanden habe, habe man nicht auf eine solche Situation schließen können.

Die mutmaßlichen Haupttäter waren innerhalb von 24 Stunden nach dem Fund der Leichen auf der Autobahn im Burgenland festgenommen worden, inzwischen sitzen zehn der elf Angeklagten in Untersuchungshaft; einer ist flüchtig. Zwei der Drahtzieher hatten nach dem Auffinden des Lkw und vor ihrer Verhaftung noch einmal telefoniert, auch das hat die Polizei auf Band. In dem Gespräch fragt der eine lachend, ob der andere gehört habe, dass viele der Menschen tot seien. Dann verabreden sie für denselben Abend den nächsten Flüchtlingstransport, 60 Menschen wollen sie nach Deutschland liefern, 30 nach Österreich. Doch dazu kommt es nicht mehr.

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