Süddeutsche Zeitung

Tragischer Unfall:Für Matteo

Eine Frau verliert ihren fünfjährigen Sohn bei einem Unfall. Um ihre Trauer zu bewältigen, startet sie eine Initiative für sichere Bahnübergänge - und erregt damit bundesweit Aufsehen.

Von Thomas Hahn

Matteos Großvater erwachte drei Wochen nach dem Unfall, und schon bald krochen ihm die Gedanken durch den Kopf. Was war passiert? Er erinnerte sich an nichts. Er konnte nur vermuten, warum er im Kieler Krankenhaus lag mit einer Schädelbasisfraktur, Gesichtsbrüchen, Beckenbrüchen und mit einer Niere weniger. Er dachte, dass er auf der Autobahn bei Kiel einen Unfall gehabt haben musste. Erst zwei Wochen später kam seine Familie und erzählte ihm alles. Dass er den Wagen über den unbeschrankten Bahnübergang von Garding, Gemeinde Nordfriesland, gesteuert hatte. Dass plötzlich der Zug da war. Dass der Zug den Wagen erfasste. Dass Matteos kleine Schwester wie durch ein Wunder so gut wie unverletzt blieb. Aber dass für Matteo jede Hilfe zu spät kam. "Er war fassungslos", sagt Marzia Plichta, die Tochter, Matteos Mutter, die Frau, die beschlossen hat, dem Tod ihres Kindes am Bahnübergang von Garding einen Sinn zu geben.

Im Jahr 2013 habe es 150 Unfälle an Übergängen gegeben, teilt die Bahn mit

Marzia Plichta sitzt zuhause in einem Hamburger Vorort am Küchentisch, sie hat die Beine hochgelegt, wegen der schweren Hämatome, die sie zusätzlich zu den Becken- und Rippenbrüchen bei dem Unfall davongetragen hat. Daneben hat ihre Mutter Platz genommen, die ebenfalls im Wagen war, als es krachte, sie hat dabei mehrere Rippenbrüche erlitten. Sechs Wochen ist der Unfall mittlerweile her, die körperlichen Wunden heilen allmählich.

Der Ereignisbericht für Matteos Großvater im Krankenhaus war eine Etappe auf dem holprigen Weg zurück in so etwas wie Normalität. Es ist alles noch sehr schwer, das spürt man, auch wenn die beiden Frauen ihren Gast mit einer festen, glasklaren Freundlichkeit empfangen. Matteo lacht vom Kalenderblatt. Im Gang herrscht dieses gepflegte Kinder-Chaos aus Schuhen und Sachen, das zur Heimat eines Fünfjährigen gehört. Aber alle wissen, dass der Bub nie mehr zur Tür hereinkommt, und das tut sehr weh. Trotzdem: Marzia Plichta möchte diese Geschichte dieses Unfalls erzählen und damit auch die Geschichte ihrer Kampagne für mehr Verkehrssicherheit.

Bereits eine Woche nach dem Unfall lancierte sie auf change.org, einer Plattform für gesellschaftliche Veränderung, eine Petition mit dem Titel "Für Matteo". Ihre Forderung an die Deutsche Bahn, Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und die Gemeinden in Deutschland: "Sichern Sie alle deutschen Bahnübergänge." Mit Schranken, mit Ampeln oder wenigstens mit Stoppschildern statt nur mit Andreaskreuzen. Ihr Ziel: 50 000 Unterschriften. "Damit wir eine Zahl haben, die was aussagt." Knapp 40 000 hat sie schon.

18 117 Bahnübergänge zählt die Deutsche Bahn in ihrem Netz, 927 davon befinden sich in Schleswig-Holstein. "Mehr als die Hälfte der Bahnübergänge bundesweit und etwa 60 Prozent in Schleswig-Holstein sind technisch gesichert, Stand 2013", schreibt eine Sprecherin der Deutschen Bahn auf Anfrage. Im Jahr 2013 habe es 150 Unfälle an Bahnübergängen gegeben. "Hauptursachen dieser Kollisionen waren mit über 90 Prozent Leichtsinn, Ungeduld oder Unkenntnis der Verkehrsregeln bei den Straßenverkehrsteilnehmern." Das heißt, schuld sind praktisch immer die Autofahrer, was allerdings in der Natur der Sache liegt.

Der Zug muss auf seinem Gleis immer Vorfahrt haben, weil sein Bremsweg so lang ist. Ausweichen kann ein Zug auch nicht. Wer vermeiden will, dass Autofahrer Fehler machen, die an Bahnübergängen zu Kollisionen mit Zügen führen, muss ihnen die Verantwortung für das Vorfahrt-Gewähren abnehmen - so geht die Argumentation von Marzia Plichta. "Die Gesetze sind dazu da, die Menschen zu schützen", sagt sie, "aber wenn 150 Unfälle im Jahr passieren, zeigt das doch, dass das nicht der Fall ist."

Die Bahn sagt, sie arbeite "seit Jahren mit Nachdruck daran, die Zahl der Bahnübergänge zu reduzieren". 1950 habe es noch gut doppelt so viele Bahnübergänge gegeben. Sie betreibe das Aufklärungsprogramm "Sicher drüber" mit dem ADAC, zwei Unfallversicherungen und der Bundespolizei zum richtigen Verhalten an Bahnübergängen. Aber Bahnübergänge sind teuer, schon eine Halbschrankenanlage kostet 350 000 Euro allein an Herstellungskosten.

Natürlich kann Marzia Plichta gegen all das nichts sagen. Sie will auch gar nicht gegen irgendjemanden etwas sagen. Ihre Kampagne ist nicht auf Angriff angelegt, sie sagt selbst, dass sie sich früher über Bahnübergänge nicht viele Gedanken gemacht habe. Aber wenn man betroffen ist von so einem Unfall, verschiebt sich die Perspektive eben.

Marzia Plichta weiß jetzt, wie viel Leid in einem Augenblick entstehen kann, den es mit der richtigen Schranke am richtigen Ort nicht gegeben hätte. Sie hat sich auch nach dem Lokführer erkundigt, der mit dem Zug in den Wagen rauschte. "Er ist berufsunfähig", sagt sie. Noch ein Argument für mehr Schranken, findet sie.

Zuspruch kommt von anderen Betroffenen. "Ich schließe mich der Frau aus Hamburg an", sagt der Prothesensprinter und Paralympics-Medaillengewinner David Behre. Er ist ebenfalls Opfer einer Kollision mit einem Zug, wobei sein Unfall vor acht Jahren an einem Übergang mit Schranke in Moers passierte. Die Schranke war damals nicht zu, obwohl sie hätte zu sein müssen. Er war sehr früh am Morgen mit dem Fahrrad unterwegs, der Zug erfasste ihn und schleifte ihn mit. Behre verlor dabei beide Unterschenkel.

In seiner 2013 veröffentlichten Biografie "Sprint zurück ins Leben" wollte er ein paar klare Zeilen an die Deutsche Bahn und den regionalen Verkehrsdienstleister Niag richten. Die Justiziarin des Verlags riet ihm davon ab. David Behre entschärfte die Passage, aber ein bisschen hat er den Eindruck, als wolle niemand wirklich lernen aus seinem Unglück.

Marzia Plichta hat schon viele Interviews zu ihrem Thema gegeben, auch im Fernsehen. Sie weiß richtig aufzutreten, von Beruf ist sie Moderatorin. Sie war sehr früh sehr offen, was für die Sache gut war, für sie persönlich nicht unbedingt. Es gab Kommentare im Internet, in denen Leute über ihr gefasstes Auftreten spekulierten; es gab sogar welche, die über den Unfall spotteten: Wie kann man an einem Bahnübergang auf freiem Feld einen Zug übersehen? Plichta schimpft nicht zurück. Man kann diesen Zug übersehen, warum auch immer. "Mein Vater war der umsichtigste Autofahrer, den ich kenne."

Vom Unfallort aus kann man schon den Bauernhof sehen, auf dem die Familie urlauben wollte

Die Unfallstelle. Hartkoogweg, Garding. Ein schmaler Pfad aus Gras und Asphalt führt auf den Bahnübergang zu. Andreaskreuze flankieren ihn, weiter vorne gibt es ein Schild mit einer Eisenbahn darauf und ein Tempo-20-Schild. Die Szenerie ist offen und dennoch seltsam unübersichtlich. Hinter dem Bahnübergang kann man schon den Bauernhof sehen, auf dem Marzia Plichta mit den beiden Kindern und den Großeltern damals Urlaub machen wollte.

Wenn man mit dem Auto auf den Bahnübergang zufährt, rumpeln die Reifen über die holprige Piste, da überhört man einen herangleitenden Zug leicht. Und auf dem Weg gibt es keine weiße Linie, die zusätzlich Achtsamkeit anmahnt.

Am Wegesrand steht eine Blumenschale mit einem Holz-Segelschiff darin. Jemand hat es für Matteo hingelegt. "Für die lange Reise", steht darauf.

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Quelle:
SZ vom 01.07.2015
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