Süddeutsche Zeitung

Tod von Dschaber al-Bakr:"Hier ist offensichtlich eine Kette von Fehlern passiert"

Dschaber al-Bakr ist tot. Wie konnte das passieren? Strafvollzugsexperte Maelicke erklärt, wie ein Suizid im Gefängnis verhindert werden kann.

Interview von Anna Fischhaber

Der mutmaßliche Islamist Dschaber al-Bakr ist tot in seiner Zelle in der Justizvollzugsanstalt Leipzig aufgefunden worden. Der 22-Jährige hat sich an den Gitterstäben in seiner Zelle erhängt. Al-Bakrs Pflichtverteidiger und Politiker äußerten Fassungslosigkeit. Jurist Bernd Maelicke hat mehrere Bücher über den Strafvollzug in Deutschland geschrieben. Im Gespräch erklärt er, wie der Umgang mit gefährdeten Gefangenen aussieht.

Wie oft kommt es vor, dass Häftlinge Suizid im Gefängnis begehen?

Bernd Maelicke: Ich schätze, dass sich etwa 100 Menschen jedes Jahr in deutschen Haftanstalten selbst töten.

So viele?

Viele Gefangene, die in Untersuchungshaft kommen, sind gefährdet. Das ist eine Krisensituation. Oft gibt sich das nach ein paar Tagen oder Wochen wieder. Dschaber al-Bakr war im Hungerstreik. Das spricht dafür, dass er suizidgefährdet war.

In der JVA Leipzig war die Psychologin offenbar anderer Meinung, obwohl er eine Lampe und eine Steckdose zerstört hat.

Es gibt keine hundertprozentige Prognose über zukünftiges Verhalten durch Experten. Das ist immer eine Risikoentscheidung. Vor allem bei einer solchen Tätergruppe. Al-Bakr wollte möglicherweise ein Selbstmordattentat begehen - einen stärkeren Hinweis auf Suizidgefahr gibt es doch kaum.

Wie geht normalerweise eine Justizvollzugsanstalt mit gefährdeten Häftlingen um?

Erst einmal gilt: Jeder hat das Recht auf Suizid, auch ein Häftling. Weil aber gerade die ersten Tage eine Krisensituation darstellen, müssen Strafvollzugsanstalten schon aus Gründen der Fürsorgepflicht intervenieren. Da gibt es eine ganze Reihe von Maßnahmen.

Wie sehen solche Maßnahmen aus?

Alle Gegenstände, die als Werkzeug für einen Suizid dienen könnten, müssen aus der Zelle entfernt werden. Also Messer, Scheren, aber auch Schnürsenkel.

Al-Bakr hat sich mit einem T-Shirt erhängt, das er vom Gefängnis bekommen hat.

Das verstehe ich auch nicht. Es gibt durchaus Kleidungsstücke, die reißen und aus denen man keinen Strick anfertigen kann. Und die zweite Frage, die sich mir stellt: Wie hat er aus einem Hemd einen Strick gemacht? Hatte er dazu Hilfsinstrumente?

Al-Bakr wurde zunächst alle 15 Minuten, später alle 30 Minuten kontrolliert. Reicht das?

Nein, man muss mit dem Häftling im Gespräch bleiben. Kommunikation ist alles, das hat der Leipziger Anstaltsleiter selbst gesagt. Wenn ein Gefangener nicht gut Deutsch spricht, braucht man dafür natürlich einen Dolmetscher, den es hier offenbar nach Dienstschluss nicht gab. Aber wenn ein mutmaßlicher Selbstmordattentäter eingeliefert wird, darf man eben nicht das Routineprogramm abspulen.

Was hätte die JVA Leipzig sonst noch tun können?

Zum normalen Repertoire einer Untersuchungshaftanstalt gehören besonders gesicherte Räume, in die zum Beispiel aggressive Häftlinge kommen. Es ist richtig, damit sensibel umzugehen. Aber das war eine Sondersituation. In einem solchen Fall kann die Anstaltsleitung eine Unterbringung in einem solchen Raum als Sofortmaßnahme veranlassen. In Leipzig hat man das offenbar nicht für nötig gehalten.

Was muss jetzt passieren?

Hier ist offensichtlich eine Kette von Fehlern passiert, und das muss jetzt untersucht werden. Die ganze Geschichte ist hochkomplex, das kann nicht die Haftanstalt selbst oder das sächsische Justizministerium leisten. Ich empfehle dringend eine unabhängige Untersuchung durch das Parlament.

Anmerkung der Redaktion: Wegen der wissenschaftlich belegten Nachahmerquote nach Selbsttötungen haben wir uns entschieden, in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche zu berichten, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Diese Bedingung sehen wir im Fall des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr gegeben, denn wie und warum er zu Tode kam und welche Konsequenzen daraus abzuleiten sind, ist Gegenstand einer relevanten öffentlichen Debatte. Dennoch gestalten wir die Berichterstattung bewusst zurückhaltend und verzichten, wo es möglich ist, auf Details.

Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

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