Tod eines 17-jährigen Transgender-Mädchens:Fehler im System

  • Seit dem Suizid der amerikanischen Teenagerin Leelah Alcorn ist eine Debatte über den gesellschaftlichen Umgang mit Transgendern entbrannt.
  • Die sehr religiösen Eltern werden seit dem Tod von Alcorn massiv angefeindet. Sie hatten ihre Tochter zu einem christlichen Therapeuten geschickt, der sie von ihrer Überzeugung "heilen" sollte.
  • Die Zahl der Suizidversuche unter Transgendern ist sehr hoch. Dabei kann eine Geschlechtsangleichung oft große Erleichterung für die Betroffenen bringen.

Von Laura Hertreiter

Damals, mit 14, hat Leelah Alcorn vor Erleichterung geweint. Es war der Moment, in dem sie begriff, woran sie all die Jahre über gelitten hatte; der Moment, in dem sie erfuhr, dass das quälende Gefühl, im falschen Körper gefangen zu sein, einen Namen hat. Dass sie nicht allein war. Dass es eine Diagnose, eine Therapie, einen Ausweg gibt. Es war der Moment, in dem alles hätte gut werden können.

So hat sie es beschrieben, drei Jahre später, als sie in ihren Computer tippte: Ich habe erfahren, was transgender bedeutet und vor Glück geweint. 964 schwarze Wörter vor pinkem Hintergrund in einem Internetblog. Leelah Alcorns Abschiedsbrief.

Kurz darauf, am 28. Dezember, wurde das Transgendermädchen mitten in der Nacht in Warren County, US-Bundesstaat Ohio, von einem Truck in den Tod gerissen. Seither sind Menschen auf der ganzen Welt schockiert. Offenbar, so steht es schwarz auf pink im Netz zu lesen, war inmitten einer Gesellschaft, die aufgeklärt und offen sein will, ein junger Mensch daran zerbrochen, dass er keine Akzeptanz in seinem Umfeld fand.

Jeden Sonntag Kirche

Leelah Alcorns Tod hat eine aufgeregte Debatte entfacht. Die Rechte von Transgendern werden diskutiert, Petitionen gestartet, und bei der Verleihung der Golden Globes, als die Serie "Transparent" über einen Trans-Familienvater ausgezeichnet wurde, würdigte deren Erfinder Jill Soloway Leelah Alcorn "und die zu vielen Transgendermenschen, die zu jung sterben". Und das Selfie, das Leelah einst von sich im Sommerkleid gepostet hatte, wurde zum Symbol für den Fehler im System.

Leelah Alcorn war als Joshua Ryan Alcorn geboren worden. Drei Geschwister, Eltern, die der Kirche der Evangelikalen angehören, sie glauben an die buchstäbliche Autorität der Bibel, jeden Sonntag Kirche.

Ich habe mich wie ein Mädchen gefangen im Knabenkörper gefühlt, seit ich vier bin.

Ein schmerzhaftes Geheimnis, bis sie mit 14 erfuhr, dass es eine Lösung gibt: Transgendern kann mit Hormonen und Operationen zu einem Körper verholfen werden, der sich richtig anfühlt. Die ständige Traurigkeit kann vorbei sein, wenn der Hormonhaushalt in Ordnung gebracht ist, es gibt viele Menschen, die diesen Weg bereits erfolgreich gegangen sind.

Gott macht keine Fehler

Leelah zog ihre Eltern ins Vertrauen. Gott macht keine Fehler, soll die Mutter gesagt haben. Sie schickte Leelah zu einem christlichen Therapeuten in eine Reparationstherapie. Dort sollte sie von ihrer Überzeugung "geheilt" werden. Die Eltern nahmen sie monatelang von der Schule, konfiszierten ihr Handy und ihren Computer.

Sie wollten, dass ich ihr perfekter kleiner christlicher Junge bin.

Für all das wurden die Alcorns nun zur Zielscheibe des Zorns. Vor allem, als sich die Mutter, Carla Alcorn, in einem CNN-Interview äußerte: Nein, die Sehnsucht ihres Kindes hätten die Eltern nicht unterstützt, aus religiösen Gründen hätten sie das nicht gekonnt. "Aber wir haben ihm gesagt, dass wir ihn bedingungslos lieben. Er war ein gutes Kind. Ein guter Junge." Seither fallen Boulevardblätter über sie her.

Hunderttausende Unterschriften wurden gesammelt, damit Leelahs selbst gewählter Mädchenname auf dem Grabstein steht. Auf Twitter pressen viele viel Wut in 140 Zeichen, es fallen drastische Worte, heftige Anschuldigungen. Die Eltern hätten Leelah mit ihrem Verhalten vor den Lastwagen geworfen, schreibt einer. "Mörder, Horroreltern!", ein anderer. Ort und Zeitpunkt der Bestattung werden wegen der Drohungen geheim gehalten.

Auch viele Kolumnisten verurteilten die Eltern, ihre Sicht von bedingungsloser Liebe, ihr Unvermögen, das eigene Kind zu verstehen. Wie schwer es jedoch sein kann, Söhne und Töchter großzuziehen, die den gesellschaftlichen Standard sprengen, hat der amerikanische Psychiatriedozent und Journalist Andrew Solomon in seinem Buch "Weit vom Stamm" anhand verschiedener Fälle analysiert.

Sein Fazit: Eltern können ihre Kinder durchaus bedingungslos lieben, selbst wenn ihre Akzeptanz an Bedingungen geknüpft sein kann. Weil es manchmal einfach Zeit braucht, sich an das Fremdartige zu gewöhnen, es zu verstehen. Die Alcorns sind wohl kaum die spirituell-überdrehten, eiskalten Monster, als die sie derzeit in manchen Medien beschrieben werden. Wahrscheinlich sind sie trauernde Menschen, die Opfer ihrer eigenen Weltsicht wurden.

Bringt die Gesellschaft in Ordnung. Bitte. Das eigentliche Problem ist viel größer, gravierender. Leelah Alcorn wusste das.

Selbsthass mischt sich mit Spott und Ablehnung

Vor zwei Jahren veröffentlichten Wissenschaftler einer amerikanischen Stiftung zur Suizid-Prävention eine Studie zu Suizidversuch unter Transgendern. 41 Prozent der Befragten gaben an, einen Suizidversuch hinter sich zu haben. Auch in Deutschland geht man von rund 50 Prozent aus, wie Patricia Metzer, Leiterin der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (DGTI) sagt. Selbsthass mische sich mit dem Spott, Ablehnung, Unverständnis der anderen, dazu kämen Hormone, die bei Transgendern oft völlig verrückt spielen.

Patricia Metzer beschreibt aber auch, was mit einer Geschlechtsangleichung möglich ist. "Sobald die Hormonersatztherapie wirkt, verfliegen Depressionen oft sofort. Das ist, als würde eine Zentnerlast von den Menschen genommen. Und viele Transgender verlieben sich, gründen Familien, beginnen ein wundervolles, neues Leben."

Ein Leben, in das es zahlreiche Wege gibt. Vereine, Selbsthilfegruppen, Notfalltelefone, psychologische Seelsorge, sowie die medizinischen Möglichkeiten - all das gibt es in Deutschland wie auch in den USA. Und trotzdem fehlte Leelah Alcorn wie vielen jungen Menschen die Perspektive. Versperrt vom eigenen Gefühl, es nicht schaffen zu können. Versperrt vom Unverständnis der Anderen.

Mein Tod soll zu der Zahl von Transgendern addiert werden, die in diesem Jahr Suizid begangen haben. Ich möchte, dass jemand diese Zahl sieht und sich denkt: "Das ist beschissen." Und sie in Ordnung bringt, schrieb Leelah.

Eine solche Zahl gibt es natürlich nicht. Dafür gibt es eine große Zahl an Menschen, die sich momentan für Transgender einsetzen. Mehr als 320 000 Menschen haben zum Beispiel eine Petition für ein Verbot von Reparativtherapien unterschrieben, wie Leelah sie hinter sich gebracht hatte. Diese Behandlungen wollen Transidentität und Homosexualität mit psychotherapeutischen Mitteln "heilen" - auch wenn alle führenden internationalen psychiatrischen und psychologischen Fachgesellschaften solche Versuche strikt ablehnen. "Ist so etwas nicht ein Missstand?", hatte sich Leelah im Oktober in einem Internet-Forum erkundigt und ihre Behandlung beschrieben.

Ja, hatten viele in den mehr als 180 Kommentaren geantwortet und Plädoyers für mehr Aufklärung und Vielfalt gepostet. Zu wenige, zu spät? Zwei Monate später war Leelah Alcorn tot.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns entschieden, in der Regel nicht über Selbsttötungen zu berichten, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Die Berichterstattung im Fall Leelah Alcorn gestalten wir deshalb bewusst zurückhaltend, wir verzichten weitgehend auf Details. Der Grund für unsere Zurückhaltung ist die hohe Nachahmerquote nach jeder Berichterstattung über Suizide. Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

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