Kurz nach 17 Uhr an diesem Donnerstag im Landesgericht Innsbruck. Auf dem Flur vor dem Schwurgerichtsaal macht das Urteil vorab die Runde: Freispruch. Sandra A., die Frau des Angeklagten, weint vor Freude und Erleichterung. Im Saal sagt der Obmann der acht Geschworenen, alle seien für Freispruch gewesen. Viele im Publikum klatschen, sodass der Richter Andreas Fleckl sagen muss, „Bekundungen der Freude oder Trauer“ seien zu unterlassen. Dann erklärt er, Florian A. könne sofort nach Hause gehen.
Am Donnerstag um kurz vor neun Uhr ist der Himmel in Innsbruck blau, es gibt Schleierwolken unterhalb der Berggipfel. In der Stadt fahren Busse mit Destinationen, die nach Urlaub klingen: Wattens und Grinzens. Ein Idyll, eigentlich. Doch im Gericht geht es um einen aufsehenerregenden Kriminalfall. Ein Schild hängt an den Glasfenstern im Foyer: „Platzkarten für den Prozess Leon A. vergriffen“. Die Mutter und der Stiefvater des Angeklagten stehen vor der Sperre, durch die Besucher hineingelassen werden. „Vertrauensperson“, sagt der Stiefvater, die beiden werden durchgewinkt.
Leon war ein geistig beeinträchtigter Junge. In der Nacht zum 28. August 2022 ertrank der damals Sechsjährige in der Kitzbüheler Ache in St. Johann in Tirol. Sein Vater Florian A. sagt, er sei niedergeschlagen worden und bewusstlos gewesen. Sein Sohn sei aus dem Kinderwagen gestiegen und in den Fluss gefallen. Die Staatsanwaltschaft glaubt indes, Florian A. habe den Überfall vorgetäuscht und seinen Sohn in die Ache geworfen oder gestoßen, weil er mit dem Jungen überfordert gewesen sei.
Die Sachverständige hat 111 DNA-Spuren untersucht
Im Schwurgerichtssaal wird zunächst eine Sachverständige der Ermittlungsbehörden befragt. Sie habe 111 DNA-Spuren untersucht, sagt sie. Einige seien unbekannt, etwa am Overall von Leon, am Flaschenhals der mutmaßlichen Tatwaffe, einer Sektflasche, an Einweghandschuhen oder an Zigarettenkippen in einem Mülleimer in der Nähe des Tatorts. Die Sachverständige konnte nicht alle Scherben der Flasche untersuchen, weil die Ermittler weniger als 50 Prozent sichergestellt hatten. Einige hatte die Straßenreinigung in St. Johann beseitigt. Für die Verteidiger ist das eine Panne.
Eine von mehreren. Die Anwälte attackierten die Ermittler an den drei Verhandlungstagen immer wieder – sie nannten die Beamten „voreingenommen“ und warfen ihnen weitere Versäumnisse vor. So zeigten Videoaufnahmen eines Drogeriemarktes in St. Johann einen Mann, der Florian A. in der Tatnacht folgte. Die Chefin des Marktes hatte die Ermittler darauf aufmerksam gemacht, dass die Aufnahmen nach sieben Tagen automatisch gelöscht würden – doch erst am achten Tag kam ein Polizist, um sie abzuholen. Chefinspektor Karl-Heinz Huber, der die Ermittlungen leitete, meinte dazu am zweiten Verhandlungstag bloß: „Da ist ein Fehler passiert.“
Staatsanwalt Joachim Wüstner sagt in seinem Schlussplädoyer, gegen Florian A. spräche vor allem die – angebliche – Bewusstlosigkeit. Hatte er sie nur vorgetäuscht, nachdem er sich die Flasche auf den Kopf geschlagen hatte? Wüstner hält sie für „medizinisch nicht möglich“. Zu leicht waren die Verletzungen am Kopf von Florian A. Der Gerichtsmediziner habe sie „Bagatellverletzungen“ genannt.
Einmal macht der Angeklagte sogar einen Scherz – allerdings einen bitteren
Die ganze Geschichte, sagt er zunächst konziliant, sei „beklemmend und furchtbar traurig. Auch Florian A. ist ein Opfer“. Dann aber meint er, dass die Geschworenen „nüchtern und sachlich“ urteilen müssten, schließlich könnten sich „draußen“ andere Angehörige von geistig beeinträchtigten Menschen ein Beispiel nehmen. „Wenn Herr A. mit seiner schlechten Lüge durchkommt, treibt vielleicht bald ein anderer toter Mensch im Fluss.“ Als er das sagt, gibt es ein empörtes Raunen im Publikum.
Verteidiger Albert Heiss versucht die Sache mit der Bewusstlosigkeit in seinem Plädoyer neu einzuordnen. Es habe ja immer geheißen, Florian A. sei eine Stunde bewusstlos gewesen – basierend auf der Aussage von Chefinspektor Huber, die Tat müsse gegen vier Uhr stattgefunden haben und A. sei um 5.17 Uhr aufgewacht, als die Sanitäter ihn berührten. „In der Anklageschrift heißt es aber jetzt, die Tat sei zwischen vier und fünf Uhr begangen worden“, sagt Heiss. „Wenn es um kurz vor fünf war, dann war der Angeklagte bis zum Eintreffen der Sanitäter höchstens 20 Minuten bewusstlos.“ Er appelliert an die Geschworenen, dass es bei Zweifeln in der Regel Freispruch gebe: „Indizien sind für ein Strafverfahren zu wenig, es braucht harte Beweise.“
Florian A., 39, war an den drei Verhandlungstagen höflich und rhetorisch gewandt. Am Donnerstag macht er sogar einen Scherz, allerdings einen bitteren. Als ein Bild von ihm aus dem Jahr 2022 gezeigt wird, auf dem er dunkle Haare hat, fragt ihn der Richter: „Das sind schon Sie, oder?“ A. antwortet: „Ja, ich habe nur vielleicht in den letzten zwei Jahren graue Haare bekommen.“ Einigen Polizisten warf er vor, ihn schlecht behandelt zu haben, etwa als er am 27. Februar 2023 in Erpfendorf in der Nähe von St. Johann festgenommen worden war. Sie hätten ihn erst vier Stunden später, in Innsbruck, mit seinem Anwalt telefonieren lassen, und ein Beamter habe zu ihm gesagt, er habe jetzt nur noch „zwei Möglichkeiten: Geständnis, Gefängnis und Neubeginn – oder Selbstmord“.
Bei seinen Schlussworten sagt Florian A. zu den Geschworenen: „In 27 Tagen ist der zweite Todestag von Leon – ich bitte Sie inständig, dass ich dann bei meiner Familie sein kann.“ Und egal, wie sie entscheiden würden, die Geschichte werde „kein Happy End für uns haben“, denn sein Sohn sei tot.