Kurz oder lang?:Was ich noch zu sagen hätte

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Schon Bundeskanzler Willy Brandt neigte zur Kürze - zumindest, wenn ihn die Fragen der Journalisten nervten. (Foto: dpa)

Tiktok verlängert seine Videos. Aber lag nicht gerade in der Kürze der Reiz? Über den menschlichen Hang zum Ausufern.

Von Martin Zips

Wir melden es hier nur ganz kurz: Tiktok erweitert seine maximale Videolänge von drei auf zehn Minuten. "Damit geben wir unseren Kreativen mehr Zeit und Flexibilität beim Filmen von Kochdemos, Beauty-Tutorials, Bildungsinhalten, Comedy-Sketchen und vielem mehr", erklärte ein Sprecher des chinesischen Betreibers Bytedance. Es ist übrigens nicht die erste Verlängerung - ursprünglich durften die auf Tiktok hochgeladenen Videos nicht mehr als 15 Sekunden dauern, später lag die Grenze bei einer Minute.

Doch was bedeutet diese Entwicklung?

"Fasse dich kurz!", so war bis in die 1980er-Jahre in den Telefonzellen dieses Landes zu lesen, und das ergab nicht nur wegen der gelegentlich sehr langen Menschenschlangen vor den Fernsprechapparaten Sinn oder wegen eines möglicherweise schmalen Budgets. Oft war es auch inhaltlich von Vorteil, sich zu begrenzen. Denn "kurz" bedeutete auch: Konzentriere dich auf das, was du sagen willst! Schweife nicht ab! Ufer nicht aus! Sammle gebündelt Informationen ein! Bewerte! Das gilt auch für Kochdemos, Beauty-Tutorials und Comedy-Sketche. Es gilt eigentlich für alles.

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Konzentrieren, einsammeln, bewerten. Für Kinder und Jugendliche ist das noch eine Selbstverständlichkeit. Früher blätterten sie in Büchern oder Comics, besuchten vielleicht Theater- und Kinovorstellungen. Sie horteten Schallplatten und Musikkassetten, saßen stundenlang vor dem Fernseher und dem Radio. Heute senden und empfangen sie Posts, Streams, Chats, Reels oder eben Tiktoks - am liebsten pausenlos. 80 Minuten täglich verbringen Vier- bis 15-Jährige in Europa und den USA laut einer Studie eines Herstellers für Kinderschutz-Software aktuell auf Tiktok. Und gemäß der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hatten im Jahr 2020 drei Viertel aller Zwölf- bis 19-jährigen einen Tiktok-Account.

Auch die SMS wurde von längeren Textnachrichten abgelöst

Aber waren es nicht gerade die komprimierten Tipp- und Tanzvideos, die Tiktok bei der Generation Z (die 1997 bis ungefähr 2011 Geborenen) sowie der Generation Alpha (die ab etwa 2011 Geborenen) so beliebt machten? Am ehesten waren die Beiträge mit Werbespots vergleichbar, mit bayerischen Gstanzln oder Aphorismen. Und gerade im Reduzierten lag ihr Erfolg. Ars brevis, vita longa. Zudem waren Tiktok-Videos oft weniger selbstverliebt und optisch aufgespritzt als diese lästigen "Guck mal, ich und mein Freund am Strand bei Sonnenuntergang"-Fotos auf Instagram. Auch von sechseinhalbstündigen Podcasts, zu welchem Thema auch immer, hoben sie sich erfrischend ab.

Trotzdem schafft es das Längere, sich durchzusetzen. Das war schon bei der SMS der Fall, die zur Long SMS wurde. Man konnte es auch auf Twitter beobachten, wo sehr viele in ihren XXXL-Threads plötzlich die Tinte nicht mehr halten wollten. Und letztlich hatte man es ja auch schon bei den vier Evangelisten gesehen. Einer hätte wahrscheinlich gereicht.

Natürlich braucht man's manchmal, den Director's Cut, das Epos Homer'scher Länge, die ausführliche Abhandlung. So kann sich der Geist noch mehr entfalten. Übrigens: Wer besonders umfangreiche Youtube- oder Tiktok-Videos macht, der bleibt auch länger auf der Plattform hängen und trägt zu höheren Werbeeinnahmen bei.

Willy Brandt antwortete in einem Interview nur mit "Ja", "Nein" oder "Doch"

Und doch ist es gerade die prägnante Kürze, die etwas auszeichnet. Beispiel Videotext: Im Jahr 1980 starteten die Bildschirmtafeln in Deutschland mit 25 Zeilen pro Seite. Ist heute immer noch so. Beispiel Friedrich Nowottny. Im Jahr 1971 bat der WDR-Journalist den damaligen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt bei einem "Tagesschau"-Interview, möglichst kurze Antworten zu geben. Brandt hätte von seinem Treffen mit dem französischen Ministerpräsidenten Georges Pompidou sicher viel zu berichten gehabt, antwortete Nowottny aber aus Trotz auf dessen Fragen immer nur mit "Ja", "Nein" oder "Doch". Es macht heute noch Spaß ( etwa auf Youtube) zu sehen, wie dem Reporter nach 30 Sekunden die Fragen ausgehen.

"Die Kürze ist die Schwester des Talents", heißt es bei Tschechow, und so passt es, leider, auch, dass gerade der österreichische Bundesheer-Generalmajor Günter Hofbauer den russischen Einmarsch in die Ukraine als "ersten Tiktok-Krieg" bezeichnet hat. Auf Tiktok kursieren nämlich auch Videos, in denen in 39 Sekunden erklärt wird, wie man einen Panzer zu steuern hat.

Darüber könnte man jetzt noch lange sinnieren. Aber gut, machen wir's lieber kurz.

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Fassung dieses Beitrags wurde das wortkarge Willy-Brandt-Interview auf das Jahr 1972 datiert. So gibt es beispielsweise auch die verlinkte Quelle an. Die Friedrich-Ebert-Stiftung datiert es in einer interessanten Detektivarbeit aber auf den 6. Juli 1971 (Quelle: https://www.fes.de/themenportal-geschichte-kultur-medien-netz/artikelseite/nowottny) und weist außerdem nach, dass nur ein Comedy-tauglicher, von der ARD ausgestrahlter Auszug jenes Interviews bekannt wurde - das ganze Interview Friedrich Nowottnys mit Willy Brandt aber auch ausführlichere Antworten enthielt.

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