Es beginnt schon mit dem Namen des Tigers. Mantacore hieß er, und nicht Montecore, wie er häufig und noch immer im Wikipedia-Eintrag über die Illusionisten Siegfried & Roy genannt wird. Dieser Mantacore, mehr als zwei Meter lang und mehr als 180 Kilogramm schwer, war es also, der das Showbusiness auf dem Las Vegas Strip grundlegend veränderte.
3. Oktober 2003, eine Zaubershow im Hotel Mirage zum 59. Geburtstag von Roy Horn. Der gewaltige Tiger beißt seinen Dompteur in den Hals und zerrt ihn von der Bühne. Wochenlang kämpft der Magier ums Überleben, ist seither halbseitig gelähmt. Der Unfall bedeutet das Ende des alten, des glamourösen Las Vegas.
Las Vegas:Kampf der Milliardäre
Zwei Superreiche bekriegen sich wegen der Energieversorgung der Casinostadt: der Investor Warren Buffett und der Casino-Besitzer Sheldon Adelson. Natürlich geht es dabei vor allem um Geld.
Es hat zahlreiche Lesarten zum Hergang gegeben, darunter auch wilde und abstruse Theorien wie jene, dass ein homophober Gast den Tiger mit einem Laserpointer geblendet habe. Die bis heute allgemein gültige Version, die auch vom deutsch-amerikanischen Künstlerpaar selbst gestützt wird: Horn habe einen Schlaganfall erlitten, das Tier sich um seinen menschlichen Freund gesorgt und Horn von der Bühne in Sicherheit bringen wollen.
Es ist, insofern es das bei einer derartigen Tragödie geben kann, eine Wohlfühldeutung, weil sie sowohl Mantacore (der 2014 im Alter von 17 Jahren starb) als auch Horn von Schuld freispricht. Diese Version, die in Las Vegas in Hintergrundgesprächen immer wieder angezweifelt wird, dürfte wohl auch im biografischen Film vorkommen, den das Künstlerpaar angekündigt hat.
Roys Tiertrainer äußert sich nun zum ersten Mal zu der Attacke
Es gibt nun eine neue Darstellung, und sie stammt von einem, der damals ebenfalls auf der Bühne gewesen ist und den Vorfall unmittelbar erlebt hat: Tigertrainer Chris Lawrence hat sich im Magazin The Hollywood Reporter zum ersten Mal über diesen Abend geäußert. "Ich erlebe diesen Abend seit 15 Jahren jeden Tag und jede Nacht, das wird mich niemals loslassen", sagt er: "Roy ist sicherlich der, der körperlich unter der Attacke zu leiden hat - aber er ist definitiv nicht der einzige, der mit den Nachwirkungen zu kämpfen hat." Seit fünf Jahren leide er an posttraumatischem Stress. Er habe Albträume, in denen sein Hals verletzt werde. "Meistens ist es ein Tiger, manchmal auch jemand mit einem Messer. Ich wache auf, fühle den Schmerz und kann nicht mehr atmen."
Lawrence berichtet, dass sich Horn in den Jahren vor diesem Auftritt immer weniger um seine Tiger gekümmert habe. "Zahlreiche Trainer haben den Eindruck bekommen, dass Roy die Katzen eher als Requisiten betrachtet hat", sagt er. Tiger jedoch bräuchten für diese Art Auftritt eine strikte Routine wie etwa, von ihrem Dompteur gefüttert und geführt zu werden: "Es geht um ein lebendes und denkendes Tier. Ich bin mir sicher, dass die abnehmende Beziehung zu Mantacore einer der Schlüsselfaktoren bei der Attacke gewesen ist."
Er selbst habe den Fehler gemacht, Horn vorzuschlagen, an diesem Abend keinen kleineren Tiger, sondern Mantacore wegen seiner Größe und Erfahrung auf die Bühne zu holen: "Es verfolgt mich noch immer, dass ich ihn dazu überredet und damit die erfolgreichste Bühnenshow in der Geschichte von Vegas auf dem Gewissen habe."
Auf der Bühne seien an diesem Abend zahlreiche Fehler passiert, gleich zu Beginn zum Beispiel sei Mantacore von seiner Markierung weggelaufen. Lawrence habe aus Furcht vor einem Anpfiff nicht eingegriffen: "Sie wollten möglichst keine Fehler während einer Vorstellung. Ich bin von Siegfried immer wieder angebrüllt worden, sein Lieblingssatz war: 'Willst Du mich ruinieren?' Er hat sich später immer entschuldigt und begründet, dass die beiden sich wegen des Drucks keine Fehler leisten könnten."
Die Shows des Künstlerpaares setzten damals mehr als 45 Millionen Dollar pro Jahr um, die Illusionisten beschäftigten mehr als 150 Leute, es war die Zeit, in der sich Las Vegas wandelte vom von der Mafia kontrollierten Sündenpfuhl hin zur familienfreundlichen Glitzermetropole, in der Zauberer wie David Copperfield und Varietés wie "Jubilee!" die Arenen füllten.
Der Trainer erkannte die Nervosität des Tigers früh
Mittlerweile ist Vegas zur massentauglichen Partystadt geworden, in der alternde Popstars auftreten und DJs auf Poolpartys oder in Großraumdiskotheken auflegen. Diese Wandlung liegt auch an diesem verhängnisvollen Abend im Oktober 2003.
Mantacore sei also von der Markierung weggelaufen, und nun habe Horn einen fatalen Fehler begangen, der bislang nicht erwähnt worden sei. "Er hat Mantacore nicht im Kreis geführt, wie es üblich gewesen wäre, er hat ihn einfach nur am Arm zu seinem Körper gezogen. Er hat sich nicht an die vorgegebene Prozedur gehalten, was zu Konfusion und Rebellion geführt hat." Die Ohren des Tigers hätten sich aufgestellt, die Schnurrhaare abgespreizt, die Augen weit geöffnet. Lawrence sei nun doch auf die Bühne gegangen, um Mantacore mit Streicheln und einem Stückchen Steak zu beruhigen - ohne Erfolg. Es passierte, was passierte.
"Ich bin mir sicher, dass Roy das Video des Vorfalls niemals gesehen hat", sagt Lawrence, dessen Version nicht im offiziellen Bericht des damals für die Ermittlungen zuständigen Ministeriums für Landwirtschaft (USDA) aufgetaucht ist - ausgerechnet, denn außer den beiden Künstlern war niemand so nahe dran wie der Tigertrainer. Lawrence glaubt, dass die Schlaganfall-Version veröffentlicht wurde, um den Wert der Marke Siegfried & Roy zu schützen, und auch aus Mitleid mit Horn.
Das führt freilich zur Frage, warum sich Lawrence ausgerechnet jetzt äußert. Nun, das liegt wohl an diesem angekündigten Film, in dem Lawrence als Tigertrainer nicht gut wegkommen könnte.
Das Management des Magierpaares, das sich 2010 endgültig aus dem Showbusiness zurückgezogen hat, lässt Anfragen unbeantwortet. Auch ehemalige Mitarbeiter der Show wollen sich nicht äußern. Es ist nicht zu erwarten, dass es bis zum Filmstart eine Antwort auf die Erzählungen von Lawrence geben wird - oder endgültige Aufklärung darüber, was an diesem Abend wirklich passiert ist.