Süddeutsche Zeitung

Therapie für Pädophile:"Ich kann nichts für diese Neigung"

Etwa 200.000 Männer in Deutschland sind pädophil veranlagt. Michael Lang ist einer von ihnen und hat sich freiwillig in Therapie begeben - aus Angst, dass er seine achtjährige Tochter missbrauchen könnte.

Anja Perkuhn

Einmal flog ein Fußball bei Michael Lang auf den Balkon - einer der Jungs, die im Hinterhof spielten, hatte ihn versehentlich dorthin geschossen. Der Junge wollte den Ball wiederhaben und klingelte bei Lang an der Wohnungstür. Lang öffnete, der Junge rannte auf den Balkon, holte den Ball und verschwand wieder. Das ist alles, mehr passierte nicht, aber Michael Lang ist damals klar geworden, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Er hat ein Schild an der Wohnungstür angebracht. Auf dem Schild steht: "Stopp, keine Kinder!" Das Schild hängt an der Innenseite der Tür. Damit es außer ihm keiner sieht.

Michael Lang, 32, Verkäufer aus Baden-Württemberg, sitzt in Regensburg in einem karg eingerichteten Besprechungszimmer. Ihm gegenüber, an einem runden Tisch, sitzen seine beiden Therapeuten und hören ihm zu. Lang sieht aus, als solle man durch ihn hindurchblicken. Das Gesicht ist geradezu geisterhaft bleich, die Augen sind blau, die Haare hell und dünn. Er sagt, dass er der Gesellschaft mitteilen will, "dass es so etwas gibt und man deshalb kein schlechter Mensch sein muss". So etwas - wie ihn.

Michael Lang erträgt nur sehr schwer Kinder in seiner Nähe, weil er sich zu ihnen sexuell hingezogen fühlt. Die Pädophilie ist ein Teil von ihm, der ihn zerreißt, den er fürchtet. Wenn er seine Tochter an die Hand nehme und mit ihr durch die Stadt laufe, könne es passieren, dass er eine Erektion bekomme, sagt er.

Weitere Ambulanzstellen in Planung

Vor zwei Jahren hat sich Lang deshalb freiwillig in Behandlung begeben, bei der ambulanten Therapiestelle für Pädophile in Regensburg. Lang ist nicht sein richtiger Name - wie der lautet, wissen selbst seine Therapeuten nicht. Wer sich bei ihnen meldet, der hat einen Grad des Leidensdrucks erreicht, der kaum noch auszuhalten ist. Der hat in sich etwas erkannt, mit dem er nicht mehr leben kann oder möchte, und liefert sich selbst aus. Da ist der Name eher unwichtig.

"Ich wäre irgendwann wie ein Überdruckkessel explodiert", sagt Michael Lang. "Je mehr man versucht, etwas wegzudrücken, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwann nicht mehr kontrollierbar ist." Es ist kein weiter Weg vom Pädophilen zum Kinderschänder, das weiß er.

Michael Lang fährt alle zwei Wochen von Baden-Württemberg nach Regensburg zur Gruppentherapie. In Berlin und Kiel gibt es ebenfalls solche Ambulanzen, seit Oktober auch in Leipzig. Anfang 2012 sollen Hamburg und Hannover folgen. In Regensburg haben sich allein im vergangenen Jahr etwa 100 Männer gemeldet. Doch nur etwas mehr als 40 werden therapiert. "Nicht jeder, der von sich denkt, er sei pädophil, ist es auch", sagt Therapeut Matthias Butz.

Es wird genau geprüft, ob wirklich eine pädophile Neigung vorliegt. Michael Lang wurde zunächst 40 Minuten am Telefon der Ambulanz befragt. Zu seinen sexuellen Vorlieben, zu seinen sexuellen Phantasien, zu seinem Pornokonsum. Dann fuhr er nach Regensburg, füllte drei Stunden lang Fragebögen aus, ein Stapel so dick wie ein Buch. Es stehen Fragen darauf, die nicht beschönigen, was nicht beschönigt gehört, zum Beispiel: Welche Protagonisten haben Ihre Pornos - Erwachsene? Kinder? Tiere?

Danach sollte Lang einem Psychologen von seiner Sozialgeschichte erzählen, seiner Lerngeschichte, seiner Sexualanamnese. So nennen sie es hier. Er nennt es: sein Leben. Dann stand die Diagnose fest: Lang ist pädophil, hat eine sexuelle Präferenz für Kinder, die noch nicht die Pubertät erreicht haben. Schätzungen zufolge sind in Deutschland etwa 200.000 Männer davon betroffen. Die meisten von ihnen bemerken ihre Neigung schon während der Pubertät.

Auch bei Michael Lang war es so. Als sich seine Schulfreunde in Mitschülerinnen verliebten, interessierte er sich für Mädchen aus der zweiten oder dritten Klasse. "Da hatte ich das Gefühl: Upps, die ist süß, die ist niedlich - aber vielleicht geht's ja wieder weg." Er sagt: "Das ist die Hoffnung, die man lange hat: Dass es eine Phase ist, dass nur vorübergehend etwas nicht stimmt mit einem." Mit 28 Jahren dann wurde ihm bewusst: Das ist mehr als nur eine Phase. Da war er schon verheiratet.

"Meine Frau ist einfach nicht damit zurechtgekommen", sagt er. Sie lernten sich auf einer Urlaubsreise kennen, wurden Freunde, und irgendwann haben sie dann geheiratet, weil man als normaler Mann eben eine Frau heiratet. So sah er das jedenfalls. Als er das Wort "normal" ausspricht, muss Lang kurz lachen. Es ist ein gepresstes, angestrengtes Lachen, das sich ein bisschen wie Husten anhört. "Ich denke, es macht ihr Angst, sich mit meiner Krankheit zu beschäftigen." Inzwischen sind sie geschieden.

Seine Tochter ist jetzt acht Jahre alt. Wenn Lang von ihr erzählt, spricht er sehr leise. "Ich will ja meiner Tochter auch ein Stück Nähe von mir geben, ohne dass da so etwas mit reinspielt", sagt er. Ob er ihr jemals etwas antun könnte, weiß er nicht. Aus Angst davor hat Lang darum gebeten, sich chemisch kastrieren zu lassen. Cyproteron heißt der Wirkstoff, der etwas Normalität verspricht. Er sorgt dafür, dass der Sexualtrieb sinkt. "Diese Option steht als Möglichkeit immer im Raum", sagt die Therapeutin Petya Schuhmann. Mögliche Nebenwirkungen: Brustwachstum, Depressionen, Lebertumore. "Das ist klar, dass das keine Brausetabletten sind, sondern anständige Sachen", sagt Lang. Er nimmt das in Kauf. Das Herzrasen, die schwitzigen Hände, die Erektionen: All das hat durch die Tabletten nachgelassen. Aber die Furcht vor sich selbst, sie bleibt.

Lang teilt sich das gemeinsame Sorgerecht für das Kind mit seiner Ex-Ehefrau. Mit seiner Tochter geht er nie ins Schwimmbad, sie darf auch nicht bei ihm übernachten. Das ist Langs Wunsch gewesen. Ihm ist auch wichtig, dass immer jemand mit dabei ist, wenn er mit seiner Tochter zusammen ist. Meist, sagt er, spiele sie alleine in der Ecke. "Sie kommt sich bestimmt oft überflüssig vor."

"Ich kann nichts für die Neigung"

Dass ihr Vater eine Krankheit hat, die den Abstand notwendig macht, das will er ihr erst später sagen. "Es ist natürlich mehr als schwierig, einer Achtjährigen zu erklären: Du, der Papa kann das nicht, weil er das und das hat", sagt er. "Das würde sie sicherlich nicht verstehen." Er versteht ja selbst kaum, warum er nicht einfach ein normaler Papa sein kann.

Anfangs ist Lang mit der Illusion nach Regensburg gefahren, dass man seine Krankheit heilen kann. "Aber das ist nicht so", sagt Lang. Eine Heilung gibt es für ihn nicht - das haben ihm seine Therapeuten gleich zu Beginn klargemacht. Es gibt nur ihn und den Abgrund, dem er niemals den Rücken zuwenden darf.

"Die meisten unserer Patienten haben ein eher geringes Selbstwertgefühl", sagt der Therapeut Matthias Butz. "Und der Wunsch, Normalität zu leben, ist bei allen da."In Regensburg gehen die Therapeuten davon aus, dass mehr als die Hälfte der wegen Sexualstraftaten an Kindern Verurteilten keine pädophile Neigung haben. "Die Taten sind dann Ersatzhandlungen, Ausdruck anderer psychischer Störungen", sagt Butz.

Seinen Eltern und Freunden hat Michael Lang nicht von seiner Krankheit erzählt. Er vermutet, sie könnten damit genau so wenig umgehen wie seine Ex-Frau. Einer Ärztin hat er sich einmal anvertraut. "Sie sagte, mit so etwas sei sie überfordert" und schickte ihn nach Regensburg. Lang blickt auf ein Poster an der Wand, auf dem zarte Blütenknospen zu sehen sind. Nichts in diesem Raum gehört ihm, kein Stift, den er in den Fingern drehen, kein Zettel, an dem er sich festhalten könnte. Hier geht es nur um ihn - und um seine Krankheit.

"Ich kann nichts für diese Neigung", sagt er. "Sie ist da, sie ist ein Bestandteil von mir. Ich habe nichts aktiv dafür getan, dass ich sie bekomme. Aber ich kann aktiv damit umgehen."

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SZ vom 13.12.2011/grc
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