Süddeutsche Zeitung

Spanien:Das größte vorstellbare Leid

Ein Vater soll seine Kinder entführt und getötet haben, um die Mutter zu bestrafen. Ein neuer Fall von Gewalt erschüttert Spanien.

Von Karin Janker, Madrid

Bevor die beiden Mädchen verschwanden, holte der Vater nachmittags erst die einjährige Anna bei ihrer Mutter ab und danach ihre fünf Jahre ältere Schwester Olivia von einer Schulveranstaltung. Tomás G. hatte der Mutter gesagt, er wolle den Nachmittag mit seinen Töchtern verbringen. Er brachte die Mädchen ins Haus seiner Eltern in Santa Cruz, der Hauptstadt der Kanareninsel Teneriffa. Die Mutter hatte sich im vergangenen Jahr von ihm getrennt, sie fällte die Entscheidung während des Lockdowns, damals war sie noch mit Anna schwanger.

Die beiden kannten sich, seit sie Teenager waren, 20 Jahre lang waren sie ein Paar gewesen. Auch deshalb war die Mutter wohl lange davon ausgegangen, dass der Vater ihrer Kinder den Kleinen nichts angetan hatte, dass er "nichts Verrücktes" gemacht hatte, wie sie noch am Donnerstag in einer Audionachricht auf Instagram sagte. Da waren Tomás G. und die beiden Mädchen schon mehr als sechs Wochen verschwunden. Die Mutter glaubte, er wolle sich mit ihnen in ein afrikanisches Land absetzen. Er hatte ihr zuvor schon mehrfach beleidigende Dinge gesagt und geschrieben, kam nicht damit klar, dass sie einen neuen Partner hatte.

Von Anna fehlt jede Spur

Doch offenbar hat Tomás G. seine Töchter nicht nur entführt, sondern sie womöglich auch getötet. Am Freitag wurde die Leiche der sechsjährigen Olivia vor Teneriffa auf dem Meeresgrund gefunden. Ein Tauchroboter entdeckte sie mittels Sonar und barg sie aus rund tausend Metern Tiefe. Die Umstände lassen auf einen gewaltsamen Tod schließen. Ihre einjährige Schwester Anna wird weiterhin vermisst, ebenso wie der Vater. Die Behörden vermuten, dass der 37-Jährige auch sie getötet hat. "Du wirst die Mädchen und mich nie wiedersehen", hatte er seiner Ex-Frau noch am Telefon gesagt.

Die spanische Öffentlichkeit bewegt der Fall, seitdem die Mutter am 27. April eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte. Sie wandte sich auf der Suche nach ihren Töchtern auch an die Öffentlichkeit, postete Bilder der Kinder auf Instagram und sprach bis zuletzt öffentlich davon, dass sie hoffe, ihre Mädchen bald wiederzusehen.

Der Mann habe seiner früheren Partnerin "das größte vorstellbare Leid" zufügen wollen, heißt es nun in der Anklageschrift der Ermittlungsrichterin. Er habe die Mutter in Ungewissheit darüber lassen wollen, was mit den Kindern geschehen sei, und wollte sie auf "unmenschliche" Weise leiden lassen. Das spanische Gleichstellungsministerium interpretiert derartige Taten in seinen Statistiken als "geschlechtsspezifische Gewalt gegen Mütter".

Die Gleichstellungsministerin spricht von der "anderen Pandemie"

Spaniens Gleichstellungsministerin Irene Montero spricht von "der anderen Pandemie", die das Land heimsuche, und von struktureller Gewalt, die Frauen erleiden, "weil sie Frauen sind". In einem Fernsehinterview nach dem Fund der Leiche des Mädchens sagte die Ministerin, die Gesellschaft und die Institutionen hätten die Verantwortung, Frauen und Kinder vor derartigen Verbrechen zu schützen.

Montero erinnerte zudem daran, dass im Laufe dieses Jahres bereits 19 Frauen in Spanien von Männern getötet worden seien. Erst an diesem Samstag wurde eine 36-Jährige in Jaén von ihrem Partner umgebracht. Nach Angaben ihres Ministeriums wurden in den vergangenen acht Jahren, also seit Beginn der statistischen Erfassung, 39 Kinder in Spanien von ihren biologischen Vätern oder den Partnern oder Ex-Partnern ihrer Mütter ermordet. Wenn sich der Verdacht im Fall von Anna und Olivia erhärtet, sind es inzwischen 41.

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