Die Anklageschrift lag fertig in der Schublade der Staatsanwaltschaft. Fertig war auch das 3-D-Modell des Tatorts. Doch der mutmaßliche Täter kam nie in Weiden in der Oberpfalz an, wo ihm der Prozess wegen Beihilfe zum Mord gemacht werden sollte. Johann "John" Breyer aus Philadelphia starb in der Nacht, bevor ein US-amerikanischer Bundesrichter am 23. Juli 2014 seiner Auslieferung zustimmte. Die Akte Breyer wurde geschlossen - und sein Beitrag zum Mord an 216 000 ungarischen Juden im Frühsommer 1944 blieb ungesühnt. Der Tatort: das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Endlose Barackenreihen. Stacheldraht. Wachtürme. Eine Rampe - die Rampe. Der Blick geht nach rechts, schemenhaft sind dort Menschen zu erkennen auf dem Weg in den sicheren Tod, in die Gaskammern. Es ist totenstill. Die Schreie, das Weinen, die Schüsse, das Hundegebell, die gebrüllten Befehle, sie sind nicht zu hören im virtuellen 3-D-Modell des Vernichtungslagers, das im Bayerischen Landeskriminalamt (BLKA) für die Weidener Staatsanwälte erstellt wurde. "Wir haben ja nichts gesehen, wir konnten nichts sehen": Das sei in früheren Prozessen die Standardverteidigung vieler SS-Wachleute gewesen, sagt Weidens Leitender Oberstaatsanwalt Gerd Schäfer.
Eine Schutzbehauptung in vielen Fällen, doch für die Gerichte nur schwer nachzuprüfen. Deshalb die Idee der Oberpfälzer Strafverfolger: Die Prozessbeteiligten sollen durch das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gehen und sehen können, was Beschuldigte angeblich nicht sehen konnten, was Zeugen beschreiben, was Sachverständige rekonstruieren. Ein virtueller Rundgang auf dem Stand des Jahres 1944, eine Art "Google Street View" am Schauplatz eines Massenmords.
Die Mitarbeiter des Vernichtungslagers wollen nichts gesehen haben
Ralf Breker, 43, leitet die zentrale Fototechnik im BLKA. Der diplomierte Geomedientechnik-Ingenieur arbeitet seit sieben Jahren für Bayerns oberste Polizeibehörde. Tatorte sind ihm vertraut, oft hat er sie mit dem Scanner dokumentiert. Aber dieser Tatort? Der größte Tatort der Geschichte? Breker sucht nach Worten, entschuldigt sich, dass er sie noch immer nicht findet nach mehr als drei Jahren. Weil man sie wohl nicht finden kann für die Verbrechen, die dort verübt wurden. "Nicht fassbar", sagt Breker schließlich.
Unter Federführung der Ludwigsburger Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen ermittelten Strafverfolger die Namen von 37 noch lebenden ehemaligen Wachmännern, Sanitätern, Aufseherinnen und Verwaltungsmitarbeitern des Vernichtungslagers Birkenau, die sogenannte Auschwitz-Liste. Unter ihnen Reinhold Hanning, heute 94, ehemaliger SS-Unterscharführer, im Juni in Detmold schuldig gesprochen der Beihilfe zum Mord an mindestens 170 000 Menschen, und auch Johann Breyer, mit 17 Jahren Wachmann der Totenkopf-SS. Im Stammlager Auschwitz, wie Breyer immer behauptet hatte. In Birkenau an der Rampe, davon waren die Ludwigsburger Nazijäger überzeugt.
Nach dem Krieg hat Breyer einige Jahre in dem Dörfchen Pirk bei Weiden gelebt. Deshalb sind die Oberpfälzer Strafverfolger für seinen Fall zuständig. In ihrem Auftrag reiste Franz Weber, bis Ende Juni Chef der Sonderermittler, mit BLKA-Kollegen und Ermittlern anderer Staatsanwaltschaften nach Auschwitz. Sie sahen die Rampe, die Gasse zu den Gaskammern. Ralf Breker war auch dabei, das erste Mal im Januar 2013, dann wieder im Mai.
Das virtuelle Modell der von Menschen gemachten Hölle auf Erden besteht aus vier Elementen. Entzerrte Luftbilder, auf denen die Gebäudegrundrisse zu erkennen sind, und ein digitales Geländemodell stellte das örtliche polnische Vermessungsamt zur Verfügung. Franz Weber und seine Mitarbeiter suchten im Archiv Baupläne von gesprengten Gebäuden, den Gaskammern und Krematorien vor allem. Die noch stehenden Gebäude, Baracken und Wachtürme, scannte Ralf Breker mit einer Kollegin ein. Eineinhalb Stunden brauchten sie für eine Baracke. Nach fünf Tagen waren sie fertig.
Dann begann die Arbeit am Computer. Im Münchner BLKA wurden aus den Messpunkten Flächenmodelle, diese wurden mit einer Genauigkeit von 25 Zentimetern auf die Grundrisse eingefügt. Und dann pflanzte Breker die Bäume. Bäume, die es am Ort des Todes auch gab. "Wo sie standen, wissen wir aus historischen Aufnahmen genau", sagt der Diplomingenieur. "Problematisch war die Höhe." Das alles dient als Basis zur Beantwortung der möglicherweise prozessentscheidenden Frage: Was konnte ein Wachmann vom millionenfachen Mord sehen?
Was Johann Breyer wirklich gesehen hat, wird für immer sein Geheimnis bleiben. Und doch, sagen die Weidener Strafverfolger, habe sich der Ermittlungsaufwand gelohnt. Das 3-D-Modell, das ebenfalls von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebene historische Gutachten, das klärt, wie der Wachdienst in Auschwitz-Birkenau organisiert war, das am Ende erfolgreiche Auslieferungsersuchen an die USA - als das BLKA sein virtuelles Modell Ermittlern aus der ganzen Republik zeigt, sind die Staatsanwälte beeindruckt. Viele hätten gar nicht gewusst, das so etwas technisch möglich sei, sagt Breker.
Jeder Blickwinkel kann nachvollzogen werden
Es wäre noch mehr möglich: ein Rundgang durch Auschwitz-Birkenau mit einer Virtual-Reality-Brille. "Das Modell ermöglicht eine gute Vorstellung davon, was wie von welchem Punkt in einem bestimmten Blickwinkel gesehen werden konnte oder was verdeckt war", sagt Jens Rommel, Leitender Oberstaatsanwalt und Chef der Ludwigsburger Zentralstelle.
Im Detmolder Prozess wurde das Modell herangezogen. Die Richterin Anke Grudda sagte in der mündlichen Urteilsbegründung zum Angeklagten Hanning: "Wir halten es für ausgeschlossen, dass Sie nicht ein einziges Mal gesehen haben, wie die ahnungslosen Deportierten in die Gaskammern geschickt wurden." Nichts gesehen: Diese Ausrede fängt nicht mehr. Die BLKA-Ermittler können zeigen, was SS-Wachmänner sahen. Jeder Staatsanwalt, jeder Nebenkläger, jeder Richter kann es sehen.
Und vielleicht bald Besucher der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. "Das ist natürlich auch unsere Intention," sagt Ralf Breker, der Mann, der Auschwitz-Birkenau gescannt hat.