Süddeutsche Zeitung

Weihnachtszeit:O Pannenbaum

Wenn sich dieses Jahr einen Rest Normalität bewahrt hat, dann in der Tatsache, dass jetzt wieder diskutiert wird, welche Stadt den hässlichsten Weihnachtsbaum hat.

Von Cornelius Pollmer

Mit dem Dezember nähert sich die Frage, wie man auf dieses Jahr einmal zurückblicken wird, und der Gedanke wird erlaubt sein, dass die diesbezüglich maßgeblichen Sendungen mal nicht von Markus Lanz und Günther Jauch moderiert werden, sondern von einem Sägekauz. Aus weit aufgerissenen Augen würde der Sägekauz aus einem verlassenen Studio in die falsche Kamera schauen, ein erstarrtes Erschrecken seinen Blick grundieren. Manchmal würde der Kauz zornig schauen, manchmal wäre da auch nur eine irgendwie endgültige Leere.

Konkret infrage käme für diesen Job ein Sägekauz namens Rockefeller. Gut 270 Kilometer ist dieser vor Kurzem von Oneonta nach Süden Richtung New York City gereist, er fand sich dort wieder im Geäst der Hauptfracht, dem wohl weltberühmtesten aller Weihnachtsbäume. Dehydriert und ausgemergelt wurde Rockefeller am Ziel geborgen, gleich wurde er zur Bildnachricht im amerikanischen Nachrichtenfernsehen. Dort war zu erfahren, dass Rockefeller Röntgen und Reha am Wochenende im Ravensbeard Wildlife Center absolvierte. Seine Entlassung zurück in die Wildnis stand bei Redaktionsschluss unmittelbar bevor.

Eine Landeule, plötzlich in der Großstadt, das gäbe einen Pixar-Film her und keinen schlechten. Aber was der Kauz Rockefeller schon jetzt geschafft hat, ist, ein wenig Druck zu nehmen von Rockefeller, dem Weihnachtsbaum. Denn wenn sich dieses angststarre Jahr einen Rest Normalität bewahrt hat, dann in der Tatsache, dass jetzt im November wieder mit großer Lust und noch mehr Gehässigkeit diskutiert wird, welche Stadt in welcher Weise den hässlichsten aller möglichen Weihnachtsbäume zu verantworten habe.

Zu unterscheiden sind in dieser Diskussion stets zum einen Defizite, die sich aus dem Transport der Bäume ergeben, und die oft reparabel sind - und zum anderen solche Mängel, die zu grundsätzlichen Fragen der Ästhetik von Ästen führen. In die erste Kategorie fallen (beziehungsweise fallen eben nicht!) die diesjährigen Bäume in New York, Frankfurt am Main und Wien. In der zweiten Kategorie bereits gefallen ist eine Fichte aus dem Westerzgebirge, die in Chemnitz als Weihnachtsbaum vorstellig geworden war. Passanten hatten zunächst ein unbestimmtes Knacken gehört, ein Riss war daraufhin diagnostiziert worden, schließlich meldete die Freie Presse: "Chemnitzer Weihnachtsbaum abgesägt". Und wiewohl die Eule seit je als Botin auch des Todes gilt und der Sägekauz gewisse Verdachtsmomente bereits in seinem Namen trägt, zum Kürzen in Chemnitz bekannte sich die dortige Stadtverwaltung.

In der erstgenannten Kategorie wiederum formulierten Beobachter bezogen auf den Rockefeller-Baum voreilig, seine Gerupftheit passe doch gut zu diesem schwierigen Jahr. Ähnlichen Zuschreibungen sieht sich die Fichte "Bertl" in Frankfurt genauso ausgesetzt wie einem nun schon seit Tagen andauernden Versuch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, diese Diskussion mit der Vokabel "Bäumsche-Gate" kampagnenjournalistisch zu labeln.

Am Ende möglicherweise erfreulicher für den Baum könnte die Debatte in Wien verlaufen, wo sich Johannes Wohlmacher im ORF soeben so aufklärend wie kämpferisch eingebracht hat. Der Oberforstmeister des Stifts Schlägl bewegte eine aus Oberösterreich migrierte Fichte gedanklich noch weiter und rückte sie schlau in die Nähe des Menschen, als er sagte, es sei "nach bestem Gewissen" ein wunderschöner Baum ausgesucht worden, der allerdings eine ganze Woche auf einem Lkw gelegen habe, "mit zusammengebundenen Ästen. Und wenn der entladen wird, schaut er ein bisschen vernudelt aus. So wie jeder Mensch, der eine Woche lang im Bett liegt und dann das erste Mal aufsteht."

Ein bisschen mehr als nur vernudelt ist dieses ganze Jahr und besinnen könnte man sich in Frankfurt, New York und Wien trotzdem darauf, auf ziemlich hohem Niveau zu klagen, gerade im Vergleich zum unteren Niederrhein. "Wesels Stahltanne ist die Konstante im Corona-Winter", titelte die Rheinische Post (RP) kürzlich, gemeint war dieselbe Konstruktion über die dieselbe Zeitung 2015 unter der Dachzeile "Seit 2009 in Wesel" schrieb: "Das ist der hässlichste Weihnachtsbaum in NRW". Während hässliche Bäume anderswo verlässlich abnadeln, braucht die Hoffnung in Wesel einen besonders langen Atem oder wie ein von der RP befragter Bürger gerade noch diplomatisch formulierte: "gut, dass der Baum rostet".

In Chemnitz gingen die Mutmaßungen übrigens noch durcheinander, als der Baum schon abgesägt worden war. Ein Vorschlag lautete darauf, den Stumpf nicht auch noch abzutransportieren, sondern stehen zu lassen als Symbol für ein gestutztes Jahr. Gar nicht mal schlecht der Gedanke, aber womöglich braucht es öffentliche Bäume gerade in diesem Jahr als Jahresendfiguren, an denen man sich aufrichten kann - und sei es nur als grüne Hoffnung und Erinnerung daran, dass die gnadenlos gerechte Zeit allem irgendwann ein Ende bereitet, Kalenderjahre explizit eingeschlossen.

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