Tamerlan Zarnajew unter Verdacht:Dreifachmord wirft Fragen zu Boston-Attentätern auf

  • Im Prozess gegen Dschochar Zarnajew, den Bombenleger von Boston, geht es auch um die Frage, welche Rolle sein Bruder Tamerlan spielte.
  • Dieser steht im Verdacht, 2011 einen Dreifachmord begangen zu haben. Er wurde nach dem Anschlag von Boston auf der Flucht vor der Polizei getötet.
  • Die Ermittlungen zu dieser Bluttat hätten das Attentat von Boston womöglich verhindern, zumindest aber mehr Klarheit bringen können. Doch sie werfen nur noch mehr Fragen auf.

Von Lena Jakat

Am 11. September 2011 treffen sich in Waltham, Massachusetts, drei Freunde, um ein Football-Spiel zu schauen. Alle drei Männer - sie sind zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig - sind bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten: Drogendelikte, Körperverletzung, Sachbeschädigung. Einen Tag später werden sie tot in dem Apartment entdeckt, den Hals aufgeschlitzt, am Tatort liegt Marihuana herum. Was wie ein ungeklärtes Verbrechen unter Dealern aussieht, sorgt in der Öffentlichkeit für keinen großen Aufruhr. Bis zu den Anschlägen von Boston eineinhalb Jahre später.

Die Brüder Dschochar und Tamerlan Zarnajew, 19 und 26 Jahre alt, bringen am 15. April 2013 zwei Bomben im Zielbereich des Boston-Marathons zur Explosion. Drei Menschen werden getötet, mehr als 260 verletzt. Eine Woche später, Amerika fahndet gerade nach den Ursachen für den verheerenden Anschlag, teilt die Staatsanwaltschaft in Middlesex County, Massachusetts, mit: Man untersuche eine mögliche Beteiligung an dem Dreifachmord von Waltham.

Tamerlan Zarnajew konnte sich im April 2013 zu den Vorwürfen nicht mehr äußern. Er war während seiner Flucht vor der Bostoner Polizei getötet worden. Sein jüngerer Bruder Dschochar lebt, er muss sich seit Mittwoch vor einem Bundesgericht in Boston für den Anschlag verantworten. Im Prozess wird es auch um die Frage gehen, inwiefern Dschocher durch Tamerlan angeleitet wurd - und in der Folge darum, wer dieser große Bruder war.

Welche Rolle spielte Tamerlan Zarnajew 18 Monate vor seiner folgenschweren Tat bei dem brutalen Tod von drei Drogendealern? Gab es neben dem islamistisch motivierten Attentäter Tamerlan auch den eiskalten Mörder Tamerlan?

Am 22. Mai 2013 befragt das FBI in Florida einen zweiten Verdächtigen im Fall Waltham, Ibragim Todaschew, 27 Jahre alt. Im Verlauf des Verhörs wird er von einem Beamten der Bundespolizei erschossen. Vor seinem Tod soll er nicht nur sich selbst, sondern auch Tamerlan schwer belastet haben. Demnach hätten Todaschew und Zarnajew gemeinsam die drei Freunde in Waltham überfallen, um Drogen zu erbeuten und sie anschließend umgebracht, damit es keine Zeugen gibt. Dieses mutmaßliche Geständnis existiert allerdings weder schriftlich noch auf Band.

Falls es dieses Geständnis gab und es der Wahrheit entsprach, ergibt sich daraus eine quälende Frage: Hätten die Polizisten im Fall Waltham besser ermittelt, wäre das Attentat von Boston dann am Ende gar nicht passiert?

Schwere Vorwürfe gegen das FBI

Doch die Umstände von Todaschews Tod sind alles andere als vollständig aufgeklärt. Sie waren Gegenstand einer großangelegten investigativen Recherche, die der öffentlich-rechtlichen Radiosenders NPR und das Boston Magazine im vergangenen Frühjahr veröffentlichten. Wenig später legten die Behörden zwar einen Untersuchungsbericht vor (hier einige Auszüge), wonach Aaron McFarlane, jener FBI-Agent, der Todaschew mit sieben Kugeln erschoss, aus Notwehr handelte.

Doch Todaschews Hinterbliebene zweifeln den Bericht an. Sie fordern nun 30 Millionen Dollar Entschädigung. Unterstützung erhält die Familie vom Council on American-Islamic Relations, einer muslimischen Bürgerrechtsorganisation "Wir haben diesen Prozess begonnen, um Gerechtigkeit für unseren Sohn zu bekommen und um jene zur Verantwortung zu ziehen, die für den Mord an ihm verantwortlich sind", sagte sein Vater Abdulbaki Todaschew am Montag laut der Zeitung Boston Globe. "Er wurde kaltblütig ermordet."

Die Vorwürfe gegen das FBI: Die Beamten, die in seine Wohnung gekommen waren, um ihn zu vernehmen, hätten Todaschew vor dessen Tod bedrängt. Zudem habe die Behörde fahrlässig gehandelt, indem sie McFarlane trotz seiner Vorgeschichte eingestellt hat. Dieser war laut Medienberichten in der Vergangenheit nicht nur unter Verdacht geraten, weil er widerrechtlich Renten in Höhe einer halben Million Dollar bezogen haben soll, sondern auch, weil in vier Jahren als Polizist in Oakland County viermal intern gegen ihn ermittelt wurde und es in dieser Zeit zwei Prozesse wegen Polizeigewalt gegen McFarlane gab.

Diese Vorwürfe gegen das FBI werden von diversen Seiten vorgebracht - unter anderem auch von den selbsternannten Unterstützern Dschochar Zarnajews. Sie vermengen die Zweifel an den Waltham-Ermittlungen mit kruden Verschwörungstheorien über das Boston-Attentat.

Die Frage nach dem Motiv ist die schwierigste, wenn es um das Boston-Attentat geht - sie wird im aktuellen Prozess gegen Dschochar eine zentrale Rolle spielen. Im Idealfall hätten die Ermittlungen zum Dreifachmord von Waltham bei der Suche nach Antworten helfen können.

Todaschew und Tamerlan Zarnajew boxten im selben Kampfsportzentrum, beide haben Wurzeln in Tschetschenien. Zwei der Opfer von Waltham hatten dieselbe Schule besucht wie die Zarnajew-Brüder. Einer der Getöteten, Brendan Mess, war im selben Alter wie Tamerlan. Die Männer, Nachbarn am Inman Square von Cambridge in Massachusetts, wurden Freunde. Sie teilten eine Leidenschaft für Kampfsport und Hiphop. Zarnajew stand auch in engem Kontakt mit Todaschews Freundin, erzählten Freunde 2013 dem Boston Globe. Diese Freundin hatte demnach einen Hang zum Extremismus, äußerte immer wieder radikalislamische Ansichten und Kritik an amerikanischen Werten.

Die Frau ist in ihr Heimatland Sudan zurückgekehrt, Todaschew und Tamerlan Zarnajew sind tot. Sie können keine Antworten mehr geben. Die Ermittlungen zu Waltham dauern an - und der Prozess gegen Dschochar Zarnajew hat gerade erst begonnen.

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