Süddeutsche Zeitung

Soziale Gerechtigkeit:Eine Schande

Der Sozialstaat sieht zu, wie sich Bedürftige an den Tafeln versammeln, an denen eine Art Gnadenbrot serviert wird. Und die Tafeln müssen die Konkurrenz der Bedürftigen ausbaden: junge Flüchtlinge verdrängen alte Leute.

Kommentar von Heribert Prantl

Was soll man von einem Sozialstaat halten, in dem Menschen ihrer Armut wegen öffentlich sichtbar Schlange stehen müssen um billige oder kostenlose Lebensmittel? Was soll man von einem Sozialstaat halten, der sich darauf verlässt, dass es "Tafeln" gibt, an denen den Bedürftigen eine Art Gnadenbrot serviert wird? Und was soll man von Tafeln halten, die Flüchtlinge von ihrer Tafel ausschließen?

Natürlich kann man die Verantwortlichen der Essener Tafel, die das tun, heftig kritisieren. Natürlich ist es so, dass Bedürftigkeit keine Nationalität kennt. Die Essener Tafel unterscheidet jetzt nach Nationalität; die Nutzer müssen dort einen deutschen Personalausweis vorlegen. Die Tafel hatte festgestellt, dass ein Verdrängungswettbewerb stattfindet, dass immer mehr junge Flüchtlinge kamen und immer weniger alte Leute; und es gab nicht mehr die Kapazitäten, alle Bedürftigen bedienen zu können.

Die alten Leute kamen nicht mehr, weil sie sich zurückgedrängt fühlten und auch zurückgedrängt wurden. Sollte man sie zu bekehren versuchen? Soll man der alten Frau sagen, dass sie sich nicht fürchten muss vor dem jungen Flüchtling? Soll man dem Arbeitslosen sagen, dass er sich nicht genieren muss, neben dem Obdachlosen zu stehen?

Die Tafeln zeigen, dass die Not zur empörenden Selbstverständlichkeit geworden ist

Es ist problematisch, Toleranz und Souveränität ausgerechnet von denen zu verlangen, die um ihre Würde, um einen Rest von Würde kämpfen müssen. Es gab offenbar in Essen eine Konkurrenz der Bedürftigen; da obsiegen die Fitteren. Die Essener Tafel hätte in dieser Situation eine klügere Entscheidung treffen können - sie hätte, zum Beispiel, die Tafel nur noch für Menschen öffnen können, die älter sind als sechzig Jahre.

Die Tafeln sind Einkaufsorte, nein Ausgabestellen für Leute, die sich ein normales Einkaufen nicht leisten können. Wie nennt man Leute, die dort hingehen? "Kunden" klingt besser als "Arme". Es gibt immer mehr Kunden an immer mehr Tafeln. Viele von ihnen sagen, sie hätten nie gedacht, einmal "so was" in Anspruch nehmen zu müssen. Da stehen Obdachlose neben Leuten, die sich gerade noch die Miete leisten können; Rentnerinnen, die von der Rente nicht leben können, neben Flüchtlingen, die das Asylbewerberleistungsgesetz sehr knapp hält.

Die Tafeln gehören zu den erfolgreichsten Einrichtungen in Deutschland. Sie expandieren wie sonst nichts. Sie expandieren deshalb, weil Not und Bedürftigkeit in Deutschland expandieren. Genau das ist das Problem. Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Tafel in Essen auf anfechtbare Weise den großen Andrang zu sortieren versucht. Das Problem besteht darin, dass die Tafeln per se einen Zustand der staatlichen Unterversorgung perpetuieren und einer Gesellschaft, die massenhaft Lebensmittel wegwirft, ein gutes Gewissen verschafft; der Staat sieht zu, wie sich die Armen und Bedürftigen an den Tafeln drängen - und diese Tafeln müssen dann die Konkurrenz der Bedürftigen ausbaden.

Die Tafeln zeigen, dass die Not zur empörenden Selbstverständlichkeit geworden ist in einem reichen Land. Sie sind Spiegel der Nöte der Gesellschaft; Tafeln sind nicht nur Fürsorgeeinrichtung, sie sind auch Anklage: eine Schande für den Sozialstaat, der nicht leistet, was er leisten soll: Grundsicherung für Menschen, die einer Grundsicherung bedürfen.

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Quelle:
SZ vom 24.02.2018/fehu
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