Befreiung der "Ever Given":Als würde ein Zahn aus dem Kiefer gerüttelt

Wie es gelang, das gestrandete Containerschiff im Suezkanal wieder flottzumachen - und ein Problem zu lösen, das pro Stunde 400 Millionen Dollar gekostet hat.

Von Thomas Kirchner

Wenn nichts mehr ging, wenn Bohrlöcher partout nicht zu schließen und brennende Ölquellen nicht zu löschen waren, wurde Red Adair gerufen. Der legendäre texanische Feuerwehrmann fand immer eine Lösung. Seit dessen Tod vor 17 Jahren versucht sich der Niederländer Peter Berdowski an der Nachfolge, als Spezialist für unmögliche Aufgaben und scheinbar hoffnungslose Fälle. Die Ever Given, die sich im Suezkanal verkeilt hatte, wieder freizubekommen, unter den Augen der Welt: Das war so eine Aufgabe. Er hat sie gelöst.

Wobei der 63-jährige Chef der Firma Boskalis wenig gemein hat mit Adair. Mit seinen feinen grauen Haaren und der Brille wirkt er eher wie ein Oberarzt. Er zieht auch nicht selber los, sondern schickt seine Leute. Und er ist mehr auf See tätig als in der Wüste. 2010 trug sein Unternehmen dazu bei, die leckende Ölplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko abzudichten, 2012 halfen Mitarbeiter der auf Rettungsaktionen spezialisierten Tochterfirma Smit Salvage beim Abpumpen des Treibstoffs und der Stabilisierung der vor der toskanischen Insel Giglio gekenterten Costa Concordia, einer anderen Tochter gelang es, das Wrack aufzurichten.

Nun also die Ever Given, eines der größten Containerschiffe der Welt. Der Druck, eine Lösung zu finden, war enorm. Laut der Versicherung Lloyd's kostete das Unglück Unternehmen weltweit 400 Millionen Dollar - pro Stunde. An beiden Enden des Kanals stauten sich Hunderte Schiffe, die Tausende Tiere transportierten, verderbliche Lebensmittel, Rohstoffe, Computerteile. Lieferengpässe drohten. Ägypten entgingen Gebühren von etwa 72 000 Dollar pro Passage.

Berdowski wurde früh eingeschaltet. Schon am Mittwoch vergangener Woche flog ein Team über Istanbul nach Kairo und inspizierte die Lage. Die Experten gingen an Bord, untersuchten die Fracht, machten Messungen. Parallel wurde die Werft kontaktiert, wurden Satellitenbilder, Videos und andere Informationen gesammelt, um letztlich ein Computermodell des 400 Meter langen Schiffsriesen zu erstellen. "Während die einen flogen, waren die anderen mit Rechnen beschäftigt", sagte Berdowski im niederländischen Fernsehen. Ein Problem: Der an dieser Stelle 300 Meter breite Suezkanal ist nicht wie andere Kanäle überall gleich tief. 25 Meter sind es in der Mitte, nahe dem Ufer nur noch elf.

Auf den Strand aufgelaufen "wie ein Walfisch"

Die Ever Given sei "wie ein Walfisch auf den Strand aufgelaufen" und habe sich wegen ihres enormen Gewichts von mehr als 200 000 Tonnen mit Heck und Bug im Ufer verkeilt, erklärte Berdowski. Fast ein Dutzend ägyptische Schlepper versuchten, das Schiff vom Fleck zu bekommen und sich dabei die 40 bis 50 Zentimeter hohe Flut zunutze zu machen. Vergeblich. "Unsere Berechnungen haben schnell gezeigt, dass das angesichts der Schwere der Ladung eigentlich nicht geht."

Also wurden so viel Wasser und Öl wie möglich abgelassen. Es gab mehrere Optionen: Eine wäre gewesen, die Fracht abzuladen, aber das hätte lange gedauert. Stattdessen wurde beschlossen, das Schiff so freizubaggern, wie es kürzlich bei einem Frachtschiff gelungen war, das bei Hamburg auf eine Sandbank in der Elbe aufgelaufen war. Dabei hilft die Erfahrung von Boskalis, deren Hauptgeschäft im Freihalten von Häfen und Fahrrinnen sowie der Landgewinnung besteht. Am Ende wurden 30 000 Kubikmeter Sand und Erde rund um die Ever Given entfernt, zum Teil am Ufer, hauptsächlich aber durch das Baggerschiff Mashhour, einem "Dredger", der den Schlamm wegbaggerte und absaugte.

Das allein werde nicht reichen, wusste Berdowski und schickte zwei außerordentlich kräftige Schleppschiffe auf den Weg in den Kanal: die unter italienischer Flagge fahrende Carlo Magno sowie die in Deutschland gebaute niederländische Alp Guard. Die Schlepper kamen erst am frühen Montagmorgen an. Mit ihrer Hilfe - und zusammen mit acht weiteren Schleppern - gelang es gegen 4.30 Uhr, das Heck des Dampfers gegen den Uhrzeigersinn um 20 Grad zur Seite zu drehen. Es lag nun frei im Kanal.

Hier löst sich ein Stau, anderswo bildet sich der nächste

Der Bug blieb allerdings stecken, "felsenfest", wie Berdowski aus der Ferne im Radio sagte. "Wir sollten nicht zu früh feiern. Das hintere Ende des Schiffes flottzubekommen war der leichte Teil." Um 11.30 Uhr, auf dem höchsten Stand der Flut, die den Wasserstand jetzt bei Vollmond um zwei Meter steigen lässt, folgte der nächste Versuch. Elf normale Hafenschlepper und die beiden superstarken Schiffe zogen und rüttelten an der Ever Given und bewegten das Heck hin und her, als müssten sie einen Zahn aus dem Kiefer reißen.

Eine zusätzliche Option wäre es nun gewesen, das Ufergelände mit einer Druckspülung zu bearbeiten. Doch die brauchte es nicht. Um kurz nach 15 Uhr am Montag war es geschafft. Das Containerschiff war frei und wurde nach Norden gezogen, wo es an einer breiteren Stelle außerhalb des Kanals inspiziert wurde.

Befreiung der "Ever Given": Gut ein Dutzend Schlepper und zwei Meter Fluthöhe brauchte es am Ende, um auch den Bug der am Kanal-Ufer aufgelaufenen "Ever Given" freizubekommen.

Gut ein Dutzend Schlepper und zwei Meter Fluthöhe brauchte es am Ende, um auch den Bug der am Kanal-Ufer aufgelaufenen "Ever Given" freizubekommen.

(Foto: -/SUEZ CANAL AUTHORITY/AFP)

Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi jubelte, die Wasserstraße ist nun wieder offen. Doch es wird Tage dauern, bis sich der Stau im und am Kanal aufgelöst hat. Die Schiffe, die nun durchfahren, werden vermutlich etwa zur selben Zeit ihr Ziel erreichen wie jene, die den langen Umweg um Afrika herum gewählt haben. Und dann verlagert sich das Stauproblem in die Häfen, die mit der Menge der ankommenden Schiffe überfordert sein werden. Allein der Hafen von Rotterdam erwartet neben der Ever Given noch 55 andere Containerschiffe, drei Tanker und ein Schiff voller Autos. Sie können nicht alle gleichzeitig abgefertigt werden. "Wir sind es gewohnt, Puzzles zu lösen. Aber dies ist ein sehr großes Puzzle", sagte ein Mitarbeiter des Logistikunternehmens ECT.

Nach dem Stau ist also vor dem Stau. Es sei wie bei einem Unfall auf der französischen Autobahn, sagte ein Sprecher des Rotterdamer Hafens dem Sender NOS: "Irgendwann geht es weiter. Aber dann kommt man zur Mautstelle und steckt wieder fest."

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Ever Given container ship is pictured in Suez Canal01:24
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