Süddeutsche Zeitung

Süddeutsche Zeitung Junge Bibliothek:Band 5: Lari Fari Mogelzahn von Janosch

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Vom Tintenkasper mit den Segelohren, dem Fiedelbären und dem kaputten Hund, der weinen muss, aber auch dem Nussknacker Lari Fari Mogelzahn und dem Löwen Hans

In der Mottengasse elf, oben unter dem Dach hinterdem siebten Balken in dem Haus, wo der alte Eisenbahnsignalvorsteher Herr Gleisennagel wohnt, steht eine sehr geheimnisvolle Kiste. Sieht haargenau so aus wie eine Schatzkiste. Hat haargenau die gleiche Farbe wie eine Schatzkiste. Ist haargenau so groß wie eine Schatzkiste, eher noch ein bisschen höher. Aber dort, wo der Deckel etwas aufsteht, schaut eine Löwenpfote heraus. Und dann, wenn der Mond durch das Fenster scheint − jede Nacht um halb neun, geschieht hier etwas sehr Geheimnisvolles. Der Deckel bewegt sich. Und einer schaut heraus. Hebt ihn in die Höhe und schaut sich um. Wackelt mit dem Kopf und streckt seine Beine. Klettert aus der Kiste und setzt sich auf den Rand: LARI FARI MOGELZAHN. Er fängt an zu singen: "Wacht auf, Kameraden, und hört euch das an! Nämlich ich, der Nussknacker Mogelzahn, erzähle euch eine tolle Geschichte, in der ich von meinen Taten berichte. Nichts ist gelogen, und alles ist wahr. Zaubergeschichten, aber auch von Gefahr." Das also ist Lari Fari, der Nussknacker mit dem auswechselbaren Lügengebiss. Mit dem Löwengebiss, mit dem Riesensteinbeißergebiss, mit dem Fuchsfanggebiss und noch hundert anderen Zähnen, die er früher auswechseln konnte, die ihm aber der Räuber Powidel geklaut hat, behauptet er. Und das Pfeffermühlengebiss ist ihm vor elf Jahren bei Sturm von der Brücke in den Fluss gefallen, sagt er. Wenn das bloß nicht gelogen ist!

Kaum hat Lari Fari zu Ende gesungen, da kommen aus der geheimnisvollen Kiste die anderen Spielzeugleute und werden lebendig. Sie klettern heraus, einer über den anderen, setzen sich auf den Kistenrand und machen es sich bequem. Zuerst kommt immer der Tintenkasper mit den Stehohren, die so groß sind, dass er sich bei starkem Wind nur auf das Feld zu stellen brauchte, und schon würde er davonsegeln. Jeden Wettflug mit den Dorfschwalben könnte er glatt gewinnen. Der Tintenkasper ist ein alter Quasselkopp und redet andauernd dazwischen. Dann kommt der Fiedelbär mit seiner Geige. Er kann so schön fiedeln, dass der kaputte Hund mit den drei Beinen und ohne Schwanz immer weinen muss. Dann kommen noch die Gummiente, der Nudelmann aus Stoff, eine Porzellanpuppe mit lockigem Haar, das alte Krokodil Belebamfidelradatz mit seinem Kind Belebamfidelradieschen.

Zuletzt kommt der ehrliche Löwe Hans mit den Löwenaugen, und ihm gehört die Löwenpfote, die immer noch aus der Kiste hängt. Der ehrliche Löwe Hans hat noch nie gelogen. Er ist stärker als alle anderen Spielzeugleute und hat Zähne, so scharf, dass er jeden fressen könnte. Der Löwe passt auf, dass keiner lügt. Die Spielzeugkistenleute setzen sich also jeden Abend auf die Kiste, der ehrliche Löwe Hans legt den Kopf mit der Löwenmähne auf seine Pfoten und sagt: "Also, fang an, Lari Fari Mogelzahn! Erzähl eine Geschichte! Aber wenn du lügst und deine Geschichte ist nicht ehrlich wahr, werde ich dich verspeisen wie einen Holzwurm, aber ehrlich." Und dann erzählt jeden Abend um halb neun der Nussknacker Lari Fari Mogelzahn eine schöne Geschichte.

Wie Lari Fari Mogelzahn ein Müller war, aber auch, wie er den berühmten Taschendieb Franz Kibitzki fing, gerade als der versuchte, ihm keinen Vogel zu stehlen

"Ich war einmal ein Müller", erzählt Lari Fari heute Abend. "Und zwar in dem schönen Spielzeugkistenland Lutschbonbon, wo ich damals wohnte. Die Leute dort hatten nichts mehr zu essen, denn es gab keinen Wind, und die Windmühle stand still. Die Leute konnten ihr Getreide nicht mahlen. Wo kein Wind ist, ist auch kein Mehl, sagt ein Sprichwort. Die Leute wären also verhungert. Aber da kam ich! Ich reckte mich, streckte mich ein bisschen, und so wurde ich ziemlich groß. Die Leute brachten lange Leitern und lehnten sie an mich; dann trugen sie ihre Körner in Säcken hinauf und schütteten sie mir zwischen die Zähne. Ich trug damals mein Mehlmahlgebiss und mahlte ihnen das Mehl so fein, dass sie davon Kuchen backen und den ganzen Tag Kuchen essen konnten. Ist nicht gelogen. Immer Kuchen mit Puderzucker und Rosinen. Und hinten an meiner Rückseite kam das Mehl heraus, und die Knechte füllten es in Säcke." "Ist das wahr?" knurrt der ehrliche Löwe Hans. "Ist das ehrlich wahr? Wenn du lügst, hau' ich dir eine mit meiner Löwenpfote runter, aber ehrlich." "Ist ehrlich nicht gelogen", sagt Lari Fari Mogelzahn und dreht sich um. "Seht euch das an! Etwas Mehl."

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