Süddeutsche Zeitung Junge Bibliothek:Band 24: Die Mitte der Welt von Andreas Steinhöfel

DIE MEISTEN MÄNNER, mit denen Glass Affären hatte, bekam ich nie zu Gesicht. Sie kamen spätabends nach Visible oder nachts, wenn Dianne und ich längst schliefen.

Dann schlugen Türen, und unbekannte Stimmen mischten sich in unsere Träume. Morgens fanden sich hier und dort verräterische Spuren ihrer Existenz: ein noch warmer Becher auf dem Küchentisch, aus dem hastig starker Kaffee getrunken worden war; die Verpackung einer Zahnbürste im Badezimmer, achtlos zerknüllt und zu Boden geworfen. Manchmal war es nicht mehr als ein verschlafener Geruch, der in der Luft hing wie ein fremder Schatten. Einmal waren es Telefone. Dianne und ich hatten das Wochenende bei Tereza verbracht, und als wir nach Hause kamen, standen die Apparate in unseren Zimmern, angeschlossen an frisch verlegte Kabel, der Putz an den Wänden noch feucht. Glass hatte sich einen Elektriker geangelt. "Jetzt hat jeder von uns seinen eigenen Apparat", stellte sie zufrieden fest, Dianne im linken Arm, mich im rechten. "Ist das nicht fantastisch? Findet ihr das nicht wahnsinnig amerikanisch?"

ICH LIEGE MATT auf meinem Bett, als das Telefon klingelt. Die Julihitze hat mich erschlagen, sie kriecht selbst bei Nacht durch die Zimmer und Flure wie ein müdes Tier, das nach einem Schlafplatz sucht. Ich weiß, wer der Anrufer ist, weiß es seit drei Wochen. Kat - eigentlich Katja, aber bis auf ihre Eltern und einige Lehrer gibt es niemanden, der sie bei ihrem vollen Namen nennt - ist aus dem Urlaub zurück. "Ich bin wieder da, Phil!", schreit sie am anderen Ende der Leitung. "Unüberhörbar. Wie war's?" "Ein Albtraum, und hör auf zu grinsen, ich weiß, dass du das gerade tust! Ich bin total elterngeschädigt, und die Insel war ein verdammtes Dreckloch, du kannst es dir nicht vorstellen! Ich will dich sehen." Ich blicke auf die Uhr. "In einer halben Stunde auf dem Schlossberg?" "Ich wäre gestorben, wenn du keine Zeit hättest." "Willkommen im Club. Ich hab mich in den letzten drei Wochen fast zu Tode gelangweilt." "Hör zu, ich brauche länger, ungefähr eine Stunde? Ich muss noch auspacken." "Kein Problem." "Ich freu mich auf dich ... Phil?" "Hm?" "Ich hab dich vermisst." "Ich dich nicht." "Dachte ich mir. Arschloch!" Ich lege den Hörer auf, bleibe auf dem Rücken liegen und blinzele eine Viertelstunde lang das blendende Weiß der Zimmerdecke an. Zypressenduft wird vom Sommerwind in Wellen durch die geöffneten Fenster getrieben. Dann wälze ich mich aus dem verschwitzten Bett, greife nach Boxershorts und T-Shirt und tapse auf knarrenden Dielen durch den Flur in Richtung Dusche. Ich hasse das Badezimmer auf dieser Etage. Der Rahmen der Tür ist verzogen, man muss sein ganzes Gewicht dagegen stemmen, um sie zu öffnen. Dahinter wird man von zersprungenen schwarzen und weißen Kacheln, von Rissen in der Decke und rieselndem Putz begrüßt. Das veraltete Leitungssystem benötigt drei Minuten, bis es endlich Wasser liefert; im Winter ist der daran angeschlossene rostige Boiler nur durch heftige Fußtritte dazu zu bringen, sich entnervend langsam aufzuheizen. Ich drehe den Wasserhahn auf, lausche dem vertrauten asthmatischen Pfeifen der Leitung und bedauere nicht zum ersten Mal, dass Glass sich nie mit einem Klempner eingelassen hat. "Wegen der Rohrleitungen?", hat sie erstaunt gefragt, als ich sie irgendwann auf die praktischen Möglichkeiten einer solchen Liaison angesprochen habe. "Wofür hältst du mich, Darling - für eine Nutte?"

VISIBLES ARCHITEKT muss genauso verrückt gewesen sein wie meine Tante Stella, die vor über einem Vierteljahrhundert das bereits im Verfall begriffene Haus während einer Reise durch Europa entdeckt, sich in seinen für diesen Teil der Welt völlig untypischen Südstaaten-Charme verliebt und es auf Anhieb gekauft hatte. Für eine Hand voll Peanuts, Kleines, schrieb sie damals Glass begeistert und stolz nach Amerika. Ich habe sogar etwas Geld übrig, um es in die dringend notwendige Renovierung zu stecken! Stella war finanziell unabhängig. Sie hatte die typische Karriere amerikanischer High-School-Schönheiten hinter sich, die sich über ihre Zukunft erst dann Gedanken machen, wenn diese schon im Begriff ist, Vergangenheit zu werden: frühe Heirat, frühe Scheidung, zu spät eintrudelnde, aber relativ großzügige Unterhaltszahlungen. Große Sprünge konnte Stella mit dem Geld nicht machen, aber es reichte für ein halbwegs sorgenfreies Leben. Es reichte für den Kauf von Visible. Das von einem weitläufigen Grundstück umgebene Haus stand, wie Stella an Glass schrieb, auf einer Anhöhe am äußersten Rand einer winzigen Stadt, jenseits des Flusses. Die zweigeschossige Fassade mit dem säulengestützten Vorbau, die kleinen Erker und die hohen Flügelfenster, das von unzähligen Giebeln und Zinnen gekrönte Dach: All das war auf Kilometer gut sichtbar für jeden. Folgerichtig nannte Stella, auf der Suche nach einem passenden amerikanischen Namen, das gesamte Anwesen - das Haus, den dahinter liegenden Holz- und Geräteschuppen sowie den weitläufigen, an den Wald angrenzenden Garten, in dem mannshohe Statuen aus verfärbtem Sandstein wie erstarrte Wanderer herumstanden - Visible. Wie sich schnell herausstellte, reichte nach dem Kauf Visibles das übrige Geld kaum aus, auch nur einen Bruchteil der Renovierungskosten zu decken. Das Mauerwerk bröckelte, das Dach war an mehreren Stellen undicht, der Garten glich einem Urwald. Visible scheint darauf zu warten, in sich zusammenzusinken und von besseren Zeiten träumen zu können, schrieb Stella in einem ihrer immer seltener werdenden Briefe nach Boston. Und die Bewohner der Stadt warten ebenfalls darauf. Sie mögen dieses Haus nicht. Die großen Fenster machen ihnen Angst. Weißt du, warum, Kleines? Weil es ausreicht, diese Fenster aus der Ferne zu sehen, um zu wissen und zu fühlen, dass sie zu einem weiten Blick auf die Welt zwingen. Ich bin mit Fotos von Stella groß geworden, unzählige Aufnahmen, die Glass einige Monate nach dem Tod ihrer Schwester aus deren Unterlagen geklaubt und im Haus verteilt hat. Man begegnet ihnen überall, in der düsteren Eingangshalle, im Treppenhaus, in beinahe jedem Zimmer. Wie kitschige Heiligenbildchen hängen sie in billigen Rahmen an den Wänden, sind aufgestellt auf wackeligen Kommoden und Tischen, drängen sich auf Simsen und Fensterbänken. Mein Lieblingsporträt von Stella zeigt ihr kantiges, von der Sonne gebräuntes Gesicht. Sie hatte große, klare Augen mit unzähligen Lachfältchen. Es ist das einzige Foto, auf dem meine Tante weich und verletzlich wirkt. Aus allen anderen Bildern spricht eine Mischung aus kindlichem Trotz und stürmischer Herausforderung. Stella sieht darauf aus wie in Feuer gehärteter, gerade im Ausglühen begriffener Stahl. Drei Tage bevor Glass auf Visible ankam, war meiner Tante der weite Blick auf die Welt zum Verhängnis geworden. Beim Fensterputzen war sie aus dem zweiten Stock des Hauses auf die Auffahrt gestürzt, wo tags darauf der Briefträger sie entdeckte. Sie lag wie schlafend auf dem kiesigen Boden, den Kopf auf einen Arm gebettet, die Beine leicht angezogen. Ihr Genick war gebrochen. Später fand Glass das Telegramm, das sie selbst vom Schiff aus nach Visible gekabelt hatte, und den Entwurf einer Antwort, die ihre ältere und einzige Schwester nicht mehr hatte abschicken können: Kleines, freue mich auf dich und Nachwuchs. Liebe, Stella. Stellas Tod berührte Glass tief. Sie hatte ihre Schwester abgöttisch geliebt, auch nach deren Weggang aus Amerika. Die Mutter der beiden war früh gestorben, am Großen K, wie Glass es nannte, und der Vater hatte sich an geistigen Getränken deutlich interessierter gezeigt als am Schicksal seiner Töchter. Dass beide nach Europa verschwanden, nahm er so betrunken wie gleichgültig auf. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Als ich Glass irgendwann auf meinen Großvater ansprach, sagte sie knapp, der amerikanische Kontinent habe ihn verschluckt und werde ihn hoffentlich nie wieder ausspucken. Nach der ersten Trauer um Stella betrachtete sie deren Tod von der pragmatischen Seite. Einer von Glass' Lieblingssprüchen ist, dass nichts geht, ohne dass etwas anderes dafür kommt. Der Tod hatte ihr Stella genommen und dafür Tereza gegeben: kein schlechter Tausch. Ein ortsansässiger Anwalt wurde von der Stadtverwaltung damit beauftragt, die Papiere der toten Amerikanerin zu sichten und ausfindig zu machen, ob es Verwandte in Übersee gab. Der viel beschäftigte Mann schickte eine Praktikantin nach Visible, eine junge Frau mit langen roten Haaren, die sich - nach einem ersten gehörigen Schrecken - recht geschickt dabei anstellte, zwei neuen Verwandten Stellas in die Welt zu helfen. Tereza stammte aus der Stadt, der sie jedoch schon vor Jahren den Rücken gekehrt hatte, um irgendwo im Norden Jura zu studieren. In der vor Kälte starrenden Nacht, die Diannes und meiner Geburt vorausging, war Tereza, die sich für die Dauer ihrer Untersuchung mit einem Schlafsack in Visible einquartiert hatte, fündig geworden. Stella hatte tatsächlich ein Testament hinterlassen. Darin erklärte sie ihre Schwester Glass zur alleinigen Erbin Visibles und ihres gesamten Nachlasses. Die Sache gestaltete sich schwierig, es gab rechtliche Probleme - Glass war nicht volljährig, sie war Amerikanerin, und sie besaß keine Aufenthaltserlaubnis. Dass sie nur Englisch sprach, machte die Angelegenheit nicht einfacher. Tereza nahm Glass unter ihre Fittiche und setzte sich bei dem Anwalt für sie ein. Der Mann mochte Tereza, er fand Gefallen an Glass, und er hatte Freunde, die wiederum Freunde in hohen Positionen hatten. Mehr als zwei Augen wurden zugedrückt, Gesetze vorsichtig gebeugt, Bestimmungen geschickt umgangen und wohlwollende Schreiben verfasst. Schließlich durfte Glass bleiben, doch das war nur ein erster Schritt. Stella hatte kaum Barvermögen hinterlassen, aber Geld war das, was Glass dringend benötigte. Visible zu verkaufen kam für sie nicht in Frage. Das Haus war mehr als nur Stellas Vermächtnis - es war das Dach über den Köpfen ihrer winzigen neuen Familie. Wieder war es Tereza, die sich einschaltete. Über Freunde an der Universität versorgte sie Glass mit Schreibarbeiten, die aus der Erledigung umfangreicher englischer Korrespondenz oder im Zusammenfassen von Artikeln aus internationalen Fachzeitschriften bestanden. Ein Jahr bevor Tereza das Studium beendete, starb ihr seit langem verwitweter Vater, ein halbwegs berühmter, emeritierter Professor für Botanik, der einzige Gelehrte, den die Stadt je hervorgebracht hatte. Plötzlich war Tereza eine vermögende, aber heimatlose Frau - sie mochte das Haus ihres Vaters nicht allein bewohnen, und so verbrachte sie ihre Semesterferien regelmäßig in Visible. Sie hütete Dianne und mich, während Glass zunächst Sprachkurse besuchte und sich dann in der Abendschule zur Sekretärin ausbilden ließ. Dianne und ich waren inzwischen vier Jahre alt und zutraulich wie junge Hunde. Wir hatten Tereza sofort ins Herz geschlossen. Als Gegenleistung ruinierte sie unsere Milchzähne mit Popcorn, das sie allabendlich zubereitete, bevor sie uns in die Betten steckte. Dort kauten wir das klebrig süße Zeug aus zersprungenen bunten Schüsseln, während Tereza uns Märchen vorlas. Meistens schlief sie darüber noch vor uns ein, dann deckten wir sie mit einer Wolldecke zu und steckten ihr Maiskörner in die Nasenlöcher. In unsere Liebe zu ihr mischte sich eine gehörige Portion Ehrfurcht; schließlich hatte Tereza, wie die Hexen in den Märchen, rote Haare. Sie konnte kleine, panische Nervenbündel aus uns machen, wenn sie damit drohte, uns in Frösche zu verwandeln. Nach dem Examen arbeitete Tereza in einer Anwaltskanzlei. Zwei Jahre später hatte sie genug Erfahrung gesammelt, um in der nächstgrößeren Stadt eine eigene Kanzlei zu eröffnen, und natürlich benötigte sie eine Sekretärin. Der Zeitplan war perfekt. Dianne und ich standen kurz vor der Einschulung, so dass Glass halbtags arbeiten konnte. Später, als wir gelernt hatten, uns selbst zu versorgen, übernahm sie den Job ganztags. Dann stieg sie morgens in ihr Auto - der alte Ford von Terezas Vater - und kehrte am frühen Abend zurück, stets mit einem kleinen Geschenk für uns: giftgrüne, klebrige Dauerlutscher, ein schmales Bilderbuch, eine Schallplatte, die vom vielen Abspielen bald zerkratzt war. Wenn Dianne und ich aus der Schule nach Hause kamen, wärmten wir tags zuvor zubereitete Mahlzeiten auf. Wir benötigten weder Ermahnungen noch Aufsicht, um unsere Hausaufgaben zu erledigen. Freie Zeit verbrachten wir fast ausnahmslos draußen, im Dschungel des Gartens, in den an das Anwesen angrenzenden Wäldern oder am nahen Fluss. Glass war stolz auf unsere Eigenständigkeit. Da sie mehr als einmal darauf hinwies, dass von ihrem Job unsere Existenz abhing, wagten Dianne und ich nicht ihr anzuvertrauen, dass wir uns, allein gelassen in dem großen Haus, vor Visible fürchteten. Die verwinkelten Zimmer, viele davon ungenutzt, die unendlich langen, sich verzweigenden Flure, die hohen Wände, von denen beim leisesten Schritt kleine, sich ins Unendliche fortpflanzende Echos widerhallten - all das war uns nicht geheuer. Visible war unheimlich, ein düsteres, hohles Gehäuse, und nichts erfüllte uns mit mehr Schrecken, als wenn Glass uns vorschlug, darin Verstecken zu spielen. Dianne und ich besaßen ein gemeinsames Zimmer im Erdgeschoss; erst später, als wir die Rückzugsmöglichkeiten in die Stille und Leere der oberen Stockwerke zu schätzen gelernt hatten, richteten wir uns, jeder für sich, dort ein. Ich nahm mir ein Zimmer, das eine unbegrenzte Aussicht über den Fluss hinweg auf die Stadt bot, die an den Hängen des Schlossbergs lag, dessen Spitze wiederum von einer nichts sagenden Burg aus dem frühen Mittelalter gekrönt war. In diesem Zimmer stellte ich fest, dass ich über eine gänzlich andere Mentalität verfügen musste, als Stella sie besessen hatte, denn der Blick durch die hohen Fenster auf die dahinter liegende Welt war mir nie weit genug.

DAS KALTE WASSER der Dusche hat mich auf Trab gebracht. Ich ziehe Shorts und T-Shirt an und gehe durch den labyrinthischen Flur zur geschwungenen Treppe, die nach unten in die Eingangshalle führt. Weder von Dianne noch von Glass ist etwas zu sehen oder zu hören. Vielleicht haben beide vor der unbarmherzigen Sommerluft kapituliert und schlafen. Sobald ich ins Freie trete, schlägt mir die Hitze ins Gesicht. Ich schnappe mir mein an der Hauswand lehnendes Fahrrad und lasse mich die holprige, unbefestigte Auffahrt hinabrollen. Der Garten hat Ähnlichkeit mit einem wogenden Getreidefeld. Zu beiden Seiten der Auffahrt kämpft meterhohes Gras mit farbenprächtigen Wiesenpflanzen um einen Platz an der Sonne. Wilder Efeu krallt sich in die Rinde von alten Obstbäumen und Pappeln, hangelt sich an den Stämmen nach oben und klettert über die Regenrinne zum Haus, um dort in Kaskaden wieder herabzufallen. Während der ersten fünf oder sechs Jahre in Visible bemühte sich Glass, diesen Wildwuchs zu zähmen, den Urwald zu unterwerfen und eine Art Garten anzulegen. Ihre Gefechtskleidung bestand aus einer grünen Kittelschürze, rosa Plastikhandschuhen und gleichfarbigen Gummistiefeln; ihre Waffen waren Gartengeräte, die ausgereicht hätten, die Wüste Neva das in fruchtbares Land zu verwandeln. Dianne und ich, unsererseits ausgestattet mit kleinen, eisernen Hacken und Schippchen, umwuselten ihre Beine, wenn unsere Mutter zum Kampf ausrückte, und hielten uns stets in ihrer Nähe auf. Doch alles Zupfen, alles Jäten und Roden war vergebens, der heroische Kampf gegen das standhafte Heer von Unkraut zum Scheitern verurteilt. "Als würde die Natur sich gegen mich wehren", beschwerte sich Glass, wenn sie abends erschöpft und müde am Küchentisch saß, die Hände trotz der Plastikhandschuhe mit Blasen übersät. "Wo ich diese Scheißpflanzen haben will, wachsen sie nicht, und wo ich sie loswerden will, schießen sie ins Kraut!" Sie stellte einen Gärtner ein, stundenweise. Martin war kaum älter als Glass, ein junger Mann mit schwarzem Haar und strahlenden grünen Augen. Er kam Gott weiß woher, und genau dorthin verschwand er auch wieder. Dianne machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie ihn nicht ausstehen konnte, und ging ihm aus dem Weg, aber ich war von Martin begeistert. Wenn er an heißen Sommertagen nach getaner Arbeit von draußen in die kühle Küche kam, wo Glass ihm geeiste Limonade servierte, setzte ich mich auf seinen Schoß und verbarg mein Gesicht in seinem nass geschwitzten Unterhemd. Ich mochte den Duft, den er verströmte, er roch nach Gras und dem offenen blauen Himmel. Während er mit Glass sprach, kraulten seine Hände meinen Nacken, die Finger trocken und angenehm weich, trotz der harten Gartenarbeit. Später, wenn Martin duschte und mir dabei Geschichten erzählte, sein Lachen nie weiter entfernt als das Ende des nächsten Satzes, die Haut glänzend von abperlendem Wasser, saß ich auf dem heruntergeklappten Klodeckel, den Kopf in die Hände gestützt, und betrachtete seine kräftigen Arme, die breiten, sonnengebräunten Schultern und die Stelle, an der seine schlanken Beine zusammenliefen. Das Handtuch, mit dem er sich trockenrieb, nahm ich beim Schlafengehen heimlich mit in mein Bett, wo ich es als Decke benutzte. Dass Glass wie selbstverständlich Martin mit in ihr Bett nahm, erfüllte mich mit einer bis dahin nicht gekannten Eifersucht, die mir nächtelang den Schlaf raubte. Falls Dianne all das registrierte, fiel es mir nicht auf. Erst viele Jahre später wuchs in mir die Gewissheit, dass ihr damals selbst das kleinste Detail nicht entging und dass meine Zwillingsschwester ebenso schlaflose Nächte verbrachte wie ich, wenn auch aus einem völlig anderen Grund: Dianne hasste Glass wegen ihrer Männergeschichten.

Band 24: Die Mitte der Welt von Andreas Steinhöfel

DUMBO AUF DEM TURM

KAT UND ICH sitzen nebeneinander auf der Schlossmauer. Unsere Beine baumeln über die Brüstung, an der ein warmer Luftzug emporsteigt. Unter uns liegt die Stadt - ausgebreitet wie eine bunt gemusterte Karte, begrenzt von bewaldeten Hügeln, eingefasst vom dreifach gewundenen, blau schimmernden Band des Flusses. In den drei Wochen von Kats Abwesenheit hat es mich oft hierher gezogen. Es beruhigt mich, die Welt so klein zu sehen. "Kein Geigenunterricht heute?" "Nicht am ersten Tag nach dem Urlaub. Aber üben müsste ich." Kat sieht mich von der Seite an. "Ob du es glaubst oder nicht, ich hab das Spielen richtig vermisst." "Du hättest das Ding ja mitnehmen können." Kat schüttelt den Kopf, wie in nachträglicher Fassungslosigkeit. "Weißt du, ich hab mal was im Fernsehen über Malta gesehen: den Brückenkopf zwischen Afrika und Europa. Kreuzritter und so ein Zeugs. Und Windmühlen. Im Fernsehen haben sie Windmühlen gezeigt. O Mann, und dann diese beschissenen Deckchen, die sie da überall und ständig häkeln ..." "Wie waren die Typen? Die Malteser?" Der Knuff, den sie mir versetzt, katapultiert mich um ein Haar ins Leere. Von hier oben bedeutet ein Sturz fünfzehn Meter freien Fall und eine Landung zwischen hohen Brennnesseln. "Hey ...!" "Selbst schuld. Mann! Ich erzähle dir hier meine Passionsgeschichte, und du denkst nur an die Typen!" "Komm schon." "Okay." Ihr Grinsen entblößt eine breite Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die seit Jahren erfolgreich dem nächtlichen Einsatz einer Klammer trotzt. "Sie waren hässlich und hatten dicke, breite Ärsche - reicht das? Außerdem hat Daddy mich bewacht wie eine Bulldogge, ich meine, selbst wenn ich etwas gewollt hätte -" "- hättest du dich dabei von niemandem abhalten lassen. Auch nicht von deinem Vater." "Ach komm, du weißt schon." Ich erhalte einen weiteren Knuff. "Vorsicht, ja? Du tust gerade so, als könntest du dir deine Freunde aussuchen." "Er hat Mama und mich völlig fertig gemacht, wie immer, ehrlich. Kulturterror und all das. Du kannst froh sein, dass du keinen Vater hast." Kats Augen suchen einen unbestimmten Punkt irgendwo hinter dem Horizont. Sie weiß, dass sie keine Antwort von mir erwarten kann. Wenn es um ihren Vater geht - wenn es um irgendeinen Vater geht -, fühle ich mich hilflos, dem Thema nicht gewachsen. Ich denke nicht gern darüber nach. Tue ich es doch, beschleicht mich ein Gefühl, das dem gleicht, das in mir beim Gedanken an einen Sturz von dieser Mauer aufkommt. Mit dem Unterschied, dass ich bei einem Sturz wüsste, was mich unten erwartet. Als hätte sie meinen Gedanken erraten, sagt Kat: "Warum erzählst du nie etwas von Nummer Drei?" "Weil es nichts zu erzählen gibt", sage ich genervt. Wann immer sie sich bisher nach meinem Vater erkundigt hat, habe ich ihr einsilbige Antworten gegeben. Dabei wird es, wenn es nach mir geht, auch bleiben. "Komm schon ... irgendwas." "Glass hat nie über ihn geredet." "Tatsache?" "Sie hat ..." Ich suche nach den richtigen Worten und starre dabei auf die im Sonnenlicht glänzenden roten Dächer der Stadt. Man kann die über ihnen vibrierende Luft sehen, die von der Hitze in kräuselnder Bewegung gehalten wird. "Sie hat einen Strich gezogen. Es gibt ein Leben, das sie in Amerika führte, über das sie mit Dianne und mir nie gesprochen hat. Gut, ich weiß ein bisschen über meine Großeltern, aber das sind langweilige Geschichten über langweilige Leute." Irgendwann in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts waren unsere Vorfahren von Europa nach Amerika gegangen, unzufrieden mit der wirtschaftlichen und der politischen Situation in ihrer Heimat. Sie überquerten den Atlantik in kleinen, schlecht kalfaterten Schiffen, sie meisterten Stürme und Kälte, Hunger und Krankheit, und bald darauf verteilten sich ihre Nachkommen wie vom Wind getriebener Löwenzahnsamen über den Kontinent, den sie Gottes eigenes Land nannten, Home of the Brave, Land of the Free. Und tapfer waren sie tatsächlich gewesen, auch frei, nur Wurzeln hatten sie nie wirklich geschlagen. Die wenigsten waren in den großen, aufstrebenden Städten gelandet. Der weitaus größere Teil machte sich, beseelt von Pioniergeist und erfüllt von einem Freiheitswillen, der kein Hindernis scheute, auf den beschwerlichen Weg zur frontier, der mythischen Grenze im Westen, hinter der, so glaubte man, das Ende des Regenbogens auf einen wartete. "Und mein Vater ...", fahre ich fort. "Es ist nicht so, als hätte ich nie versucht, etwas über ihn rauszukriegen. Aber Glass macht dann einfach dicht." "Es nervt dich, oder?" "Irgendwie schon", gebe ich widerwillig zu. Dass Nummer Drei sie hatte sitzen lassen, ist der einzige mir bekannte Grund, der meine Mutter zum Sprung über den Großen Teich bewegt hat. "Es ist so ... unvollständig." Ich denke an die Liste, die ich vor einigen Jahren zufällig zwischen Glass' Papieren gefunden habe, eine Liste, die ihre Männer aufführte, säuberlich durchnummeriert und mit Namen und den Daten versehen, an denen, wie ich annahm, Glass mit ihnen geschlafen hatte. An einer Stelle stand lediglich eine Zahl. Es war ein Leichtes gewesen, vom Tag meiner und Diannes Geburt bis zu dem Datum zurückzurechnen, das neben der Nummer Drei stand. Ich weiß nicht, ob diese Liste heute noch existiert. Damals hatte sie etwa fünfzig Einträge. Ob das eine große oder kleine Zahl ist, vermochte ich nicht zu beurteilen. Auf mehr als zehn Jahre verteilt erschienen mir fünfzig Affären nicht besonders viel, was daran liegen mochte, dass die wenigsten Männer, wenn Glass sie überhaupt mit nach Hause gebracht hatte, öfter als einmal in Visible aufgetaucht waren. In meiner Erinnerung schieben sich ihre Gesichter wie graue Phantomzeichnungen übereinander, vage und austauschbar. Sie haben keinen Anteil an meinem Leben genommen, und so bleiben sie, auch wenn sie Namen besitzen, letztendlich dasselbe für mich, was sie für Glass waren: Nummern auf einem weißen Blatt Papier. Natürlich gibt es Ausnahmen - Martin mit den grünen Augen und dem Geruch nach Gartenerde ist eine davon, und später war da Kyle, der Bogenschnitzer mit den schönen Händen -, doch über allen Ausnahmen thront jener Mann, der anstelle eines Namens mit der Zahl Drei auf der Liste steht. "Hättest du gerne einen? Einen Vater?" Kat hat etwas Moos aus den Mauerritzen gezupft, das sie zwischen den Fingern zu einer kleinen grünen Kugel zusammenrollt. "Ich meine, vermisst du ihn irgendwie?" "Wie sollte ich ihn vermissen?", schnappe ich. "Ich hab ihn schließlich nie gekannt." Kat weiß sehr genau, dass sie in gefährlichen Gewässern fischt. Sie kann ein echtes Miststück sein. Mit dreister Beharrlichkeit wird sie ihre Finger auf genau die wunden Stellen meiner Seele legen, vor denen selbst ein Psychiater zurückschrecken würde. Schwarze Löcher. Komm ihnen zu nahe, und bevor du weißt, wie dir geschieht, verschlucken sie dich. Doch was für mich schwarze Löcher sind, nennt Kat ,weiße Flecken auf der Landkarte deiner Psyche'. Geduldig füllt sie diese Flecken aus, wann immer sich ihr eine Gelegenheit dazu bietet, und es kümmert sie herzlich wenig, wenn sie dabei Grenzen übertritt. So wie jetzt. "Du weißt immerhin, dass er in Amerika lebt", bohrt sie weiter. "Amerika ist groß", sage ich gereizt. "Und dass er noch lebt, ist nur eine Vermutung. Also jetzt tu mir einen Gefallen und halt endlich die Klappe, okay?" "Okay. Friede." Die Mooskugel wird entschlossen weggeschnippt, sie trudelt auf der warmen Luft nach unten und landet am Fuß der Schlossmauer zwischen den Brennnesselbüschen. Ich erhalte eine versöhnliche Großaufnahme der Zahnlücke. "Vanilleeis?"

IM SOMMER VOR MEINER EINSCHULUNG beschloss Glass, dass et was mit meinen Ohren geschehen müsse. "Sie sind zu groß, Phil", erklärte sie. "Und sie stehen ab. Du siehst aus wie Dumbo." Wir saßen auf einer Steppdecke am Flussufer, von hoch gewachsenem, rosarotem Springkraut vor der Nachmittagssonne geschützt, weitab von der Stadt, weitab von ihren Bewohnern. Meine Mutter griff in eine mit Getränken und klebrigen Erdnussbutter-Sandwiches gefüllte Kühlbox, holte eine Flasche Cola heraus und setzte sie an die Lippen. Sobald sie die Flasche wieder absetzte, würde es kein Entrinnen mehr geben. Dass ihr meine Ohren nicht gefielen, erfüllte mich mit Unbehagen. Ich sah zu Dianne hinüber, die bis zu den Knien im träge dahinströmenden Wasser stand, wo sie die Unterseiten flacher Steine nach Schnecken absuchte. Niemand hätte uns für Zwillinge gehalten. Schon deshalb nicht, wie ich jetzt dachte, weil Dianne gänzlich unauffällige Ohren besaß. "Wer ist Dumbo?", fragte ich vorsichtig. "Ein Elefant." Glass stellte die Cola zurück in die Kühlbox. "Seine Ohren schleiften über den Boden, beim Laufen ist er ständig darüber gestolpert. Sie waren einfach zu groß." Dianne kletterte aus dem Fluss, sprang geschickt über ein paar Steine, schlug sich durch hüfthohes Gras und hielt Glass im nächsten Moment wortlos einen Stein unter die Nase, an dem ein besonders hübsches, rundes Schneckenhaus klebte. "O Gott, bring das weg!", rief Glass angeekelt. "Ich kann dieses glitschige Zeug nicht ausstehen!" Sie legte sich zurück, schloss die Augen und sah deshalb auch nicht, wie sich Dianne, bevor sie zurück ins Wasser marschierte, um dort nach neuen Glitschigkeiten zu suchen, die Schnecke versuchshalber in ihr linkes Ohr steckte. In ihr nicht abstehendes linkes Ohr von normaler Größe, wie ich neidisch bemerkte. Ich blieb auf der Decke sitzen, im Bann schrecklichster Vorahnungen. Ich erwartete, dass Glass das Thema erneut aufgriff - dass sie mir erklärte, was mit zu großen und abstehenden Ohren gemacht wurde, damit diese nicht über den Boden schleiften -, aber sie war eingeschlafen, und da sie auch auf dem Nachhauseweg nicht wieder darauf zu sprechen kam, betrachtete ich, wenn auch zögernd, die Angelegenheit schließlich als erledigt. Der frühe Abend verging mit dem erfolglosen Versuch, die unglückliche Flussschnecke aus Diannes Ohr zu entfernen. Glass fuhrwerkte mit dem Inhalt von drei Küchenschubladen in Diannes Gehörgang herum, mit dem wenig überraschenden, aber schmerzhaften Resultat, dass der Fremdkörper irgendwann gegen das Trommelfell drückte. Schließlich murmelte sie etwas von der eustachischen Röhre, und ich wusste nicht, was ich mehr bewundern sollte - dass meine Mutter ein so kompliziertes Wort aussprechen konnte, oder dass sie ohne mit der Wimper zu zucken ihre Lippen um Diannes Nase schloss und so kräftig hineinpustete, dass ich tatsächlich erwartete, die Schnecke wie ein Schnellfeuergeschoss aus dem Ohr und durch die Küche fliegen zu sehen. Als auch das nicht half, schob Glass uns fluchend ins Auto und fuhr mit uns in das städtische Krankenhaus, wo ein geduldiger junger Notarzt mit Hilfe mehrerer Spülungen und einer feinen Pinzette das Unglück behob. "Ich heiße Clemens", sagte er zu Dianne. "Und du?" Dianne gab keine Antwort. Der Arzt lachte. Ich beobachtete, wie seine sonderbar rosigen Hände mit der Pinzette hantierten. Seine Fingernägel waren ganz kurz geschnitten. Die Schnecke war selbstverständlich tot, doch ihr schmutzig braunes Gehäuse hatte, wie durch ein Wunder, den Eingriff völlig unbeschadet überstanden. Als wir wieder im Auto saßen, ließ Dianne das Schneckenhaus über ihre geöffnete Handfläche rollen. "Darf ich es behalten?", fragte sie. "Du kannst es dir von mir aus ... ach, Scheiße, von mir aus behalt es", gab Glass zurück. Es krachte, ein Ruck ging durch den Wagen, als sie in den falschen Gang schaltete. Ich wusste, dass sie wütend war, unsagbar wütend, weil sie wegen einer kaum erbsengroßen Schnecke dazu gezwungen gewesen war, einen fremden Menschen um Hilfe zu bitten, auch wenn es ein sehr netter fremder Mensch gewesen war. Viele Jahre später fand ich Clemens auf der Liste wieder. Hinter seinem Namen stand die Nummer 24. Bis wir zu Abend gegessen hatten und schlafen gingen, war es dunkel geworden. Glass kam in unser Zimmer und trat an mein Bett, das Licht war bereits gelöscht, Dianne schon eingeschlafen. Sie hatte die Schnecke unter ihr Kopfkissen gelegt, am nächsten Morgen war das Gehäuse in hundert Splitter zerbrochen. Als Glass sich über mich beugte, hatte ich das Gefühl, mit ihrer Stimme allein zu sein. "Wegen deiner Ohren ..." Es war Diannes Schuld! Hätte sie diese blöde Schnecke in Ruhe gelassen, wäre Glass nicht dazu gezwungen gewesen, stundenlang über Ohren nachzudenken. "Dir ist hoffentlich klar", sagte die Stimme, "dass sie dasselbe mit dir machen werden, was sie mit Dumbo gemacht haben."

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