Süddeutsche Zeitung Junge Bibliothek:Band 16: David und der Weihnachtskarpfen von Jan Procházka

ERSTES KAPITEL - Papi, den will ich!Schnee fällt auf hunderte von Türmen. Die Dächer sind aus Kupfer. Wie Ungeheuer aus Dinosaurier-Zeiten schieben sich die Straßenbahnen rasselnd durch das Schneegestöber.

Sie haben Licht an der Stirn, aber es ist noch Tag, Nachmittag. Hier oben in der Höhe der Türme, Kuppeln, Dächer und Glocken ist Prag herrlich. Am kleinen Platz zu Füßen des Doms werden Weihnachtsbäume verkauft.

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Die schönsten Bäume aus dem Riesengebirge!

Natürlich ist das Schwindel. Jemand zieht aus einem Haufen von Bäumen ein mickriges Stück Holz ohne Zweige hervor, betrachtet dieses Wunder und schaut dann fragend die Verkäuferin an. Über den Vorhof kommen Mönche. Sie gehen in den Dom. Wegen der Kälte tragen sie Ohrenschützer. Der Letzte bleibt stehen, dreht sich um und schaut eine Weile diesem Treiben zu. Dann läuft er seinen Klosterbrüdern nach. Goldkugeln sind auf dem Pulverturm. Millionen von Goldkugeln auch in den Marktbuden. Zu ermäßigten Preisen. Vier Kugeln für fünf Kronen. Es geht wie auf einem Bazar im Orient zu. Da liegt eine Ladung mit Herrenwäsche. Eine dicke Frau passt einem dürren Mann eine Unterhose an. Die Krone des Wenzelsplatzes ist das Nationalmuseum. Erhabenheit in Granit, der Stolz der Nation. Ein Autobus mit Touristen kommt an. Es sind Leute vom Lande. Sie steigen aus. Aber sie gehen nicht ins Museum, sondern ins Kaufhaus gegenüber. Der heilige Wenzel auf seinem Pferd wiegt die Lanze in der Hand, nasser Schnee klebt ihm auf den steinernen Augenbrauen. Eine Frau hebt ihr Kind über ein Kanalgitter, damit es Pipi macht, doch die lärmende Menschenmenge erschreckt es. Das Kind brüllt. Jeder in der Stadt kauft ein und schleppt volle Taschen. Liebespärchen, die durch die Straßen gehen und keine Eile haben, sind allen im Weg. Also landen sie auf einer Bank im Park, wo jemand dem Dichter-Denkmal einen warmen Schal um den Hals gelegt hat. Niemand bleibt vor dem Schaufenster mit den herrlichen Zierfischen stehen. Alle drängen sich beim Fischhändler um die mit Karpfen randvollen Bottiche. Blutrünstig besichtigen sie die fleischige Ernte der Teiche. Der Fischhändler mit dem halbmeterlangen Messer in der Hand hat das Gesicht eines Träumers. "Mir ein Männchen", sagt eine Frau zu dem Kraftkerl in der nassen Gummischürze. "Sie haben doch Männchen?" "Lauter Männchen", sagt der Mann. Mit rhythmischem Schwung wirft er einen Karpfen auf die Waage. Seine Geschicklichkeit dabei ist geradezu überwältigend.

Als ob hier neben dem Bottich nicht ein Verkäufer, sondern ein Jongleur stünde! So merkt es auch kaum jemand, wenn er noch ein Stück Eis mit dazuwiegt. Schon ist der Karpfen in einer Tasche verschwunden und auf der Waage liegt wieder das Eisstückchen bereit. "Mir ein Weibchen", ist der nächste Wunsch. "Haben Sie auch Weibchen?" "Wir haben nur Weibchen!" Er schaut nicht einmal in den Bottich. Dafür tut dies David. Ein kleiner Junge. Was heißt hier Junge - ein Knirps! Ein Wunder, dass er nicht hineinfällt. Er sieht die metallisch schimmernden Rücken der Fische und er sieht auch sein eigenes Gesicht auf dem Wasser gespiegelt, die Knopfnase, den offenen Mund. Es sind mehrere Bottiche da. Der Junge steht zwischen ihnen, genauer gesagt, er hüpft zwischen ihnen hoch. Er muss hochhüpfen, sich mit beiden Händen am Rand festhalten und sich mit den Fußspitzen auf den Fassreifen stützen, damit er eine Weile die Karpfen anschauen kann. Solange er es eben in dieser Stellung aushält. Einer der Fische, der größte, der mit dem stahlblauen Rücken, taucht bis zur Wasseroberfläche auf. Deutlich bewegen sich seine Kiemen. Er reckt das Maul hoch, als ob er nach Sauerstoffbläschen schnappen wollte. David bringt es sofort fertig, ein Fischgesicht zu machen und den Karpfen nachzuahmen. Eine Weile widmet er sich diesem Spiel mit Begeisterung. Dann blickt er sich vorsichtig um. Niemand schaut ihm dabei zu. Er taucht die Hand ein ... Aber samt dem Strickhandschuh! Erst jetzt merkt er's. Eine Sekunde lang ist er unschlüssig. Danach zieht er den Handschuh aus und steckt ihn, patschnass, wie er ist, in die Tasche. Nun greift er mit der bloßen Hand in den Bottich und berührt den schuppigen Karpfenrücken. Was für ein Koloss von Karpfen! Aber er ist kraftlos, entweicht nicht. Das würde ihm auch nicht gelingen, denn der Bottich ist randvoll mit Fischen. Der Junge fasst den Kopf des Karpfens an. Er möchte gerne dieses rosa Mäulchen berühren. Ist es wirklich so weich, wie es aussieht? Er stützt sich auf den Ellenbogen. Das ist recht schmerzhaft. David blickt sich wieder um. Vor dem Milchladen stehen leere Flaschenkisten. Der Junge holt eine. Um sich durch das Gewühl auf dem Gehsteig zu drängen, muss er zu einigen Frauen sagen: "Achtung!" Es klingt erwachsen. Merkwürdig erwachsen. Er hat auch solche Augen. Dieser nachdenkliche, schon gereifte Blick verrät sein ganzes Wesen. Und die Leute machen ihm auch tatsächlich Platz, damit er mit seiner Kiste durchkommt, die eigentlich geklaut ist. "Wohin trägst du das denn, mein Kind?", fragt auch noch besorgt eine Frau, eine dieser Glucken. "Ich helf dir", sagt sie und nimmt ihm die Kiste ab. Dem Jungen flimmert es kurz vor den Augen. Er weiß nicht, ob er verschwinden soll. "Hierher!", sagt er zu der Frau ein wenig widerstrebend. Er zeigt ihr, dass sie die Kiste neben den Bottich stellen soll, damit er besser hineinsehen kann, wenn er auf der Kiste steht. Die Frau tut es, mit offenem Mund. Es hat ihr die Sprache verschlagen. "Danke", sagt David. Er kümmert sich nicht mehr um die Frau und zieht ein Bonbon aus der Tasche. Es ist in Papier verpackt. Er wickelt es aus. Zuerst beißt er das Bonbon durch. Er nimmt nun die beiden Hälften aus dem Mund und guckt, welche die größere ist. Er will dem Fisch die kleinere geben. Aber dann zögert er doch. Die Großmut hat gesiegt. Die kleinere Hälfte tut er in den Mund, die größere steckt er ins Wasser. Er will sie dem Karpfen ins Maul stopfen. Erst jetzt kommt Leben in den Karpfen. Er macht eine Wende. Der Junge muss die Kiste ein wenig weiter tragen. Wieder springt er hinauf, wieder guckt er sich den Karpfen aus der Nähe an. Er steckt nun auch die andere Bonbonhälfte in den Mund, die, die er aus dem Wasser gezogen hat. Plötzlich entdeckt David jemanden im Strom der Menschenmenge. Rasch rutscht er hinter dem Bottich hinunter und setzt sich auf die Kiste. Jetzt kann ihn niemand sehen.

Band 16: David und der Weihnachtskarpfen von Jan Procházka

Wir merken es am Ausdruck seiner Augen, dass der Vater kommt. Vor ihm versteckt sich der Knirps. Doch der Vater tut, als ob er nichts gesehen hätte. Er geht nicht zu den Bottichen, sondern zu dem weihnachtlich geschmückten Schaufenster gegenüber. Zwischen dem Vater und dem Jungen strömt eine Menschenmenge. David ist unruhig geworden, er möchte wissen, was der Vater dort vorhat. Vorsichtig stellt er sich auf die Kiste und späht umher. Wohin er auch schaut, den Vater sieht er nicht. Auch der Vater kümmert sich nicht um die vielen Menschen. Er ist auf den Mauersockel unter dem Schaufenster gestiegen und will wissen, was der Junge dort drüben treibt. Er sieht ihn aufgeregt hinter dem Bottich hervorgucken. Jetzt duckt sich der Vater schnell, weil der Junge zu ihm hinüberschaut. Und den Vater beobachtet wieder misstrauisch die Frau, die dem Jungen die Kiste getragen hat. Der Vater steigt verlegen vom Sockel, senkt die Augen und macht ein Gesicht, als ob er sich entschuldigen möchte, sagt aber nichts und taucht in der Menge unter. Er macht einen großen Bogen um die Bottiche. Es kommt ihm recht gelegen, dass am Rand des Gehsteigs ein Lastwagen steht. Hinter ihm schleicht er sich an David heran, der eben in die entgegengesetzte Richtung guckt. Der Knirps hält den Mund halb offen, sein Atem dampft in der kalten Luft. "Mach den Mund zu, atme durch die Nase. Sonst kriegst du Halsschmerzen und ein paar auf den Hintern!", ruft der Vater unversehens. Beide haben die gleichen Pelzkappen auf dem Kopf, beide tragen die gleichen Pullover. David wäre beinahe umgefallen, er rutscht auf der Kiste aus, stolpert, steht nun aber wieder fest auf seinen Beinen. Die bloße Hand verschwindet sofort in der Tasche. Aber in der steckt ja der nasse Handschuh. Also verbirgt er die Hand hinterm Rücken. "Wo hast du deinen Handschuh?", fragt der Vater streng. "In der Tasche", antwortet der Knirps. "Anziehen!", befiehlt der Vater. David gehorcht, ohne die Miene zu verziehen. Doch der Vater berührt den nassen Handschuh und sofort zieht er ihn dem Jungen aus. Er weiß nicht, wohin damit, also steckt er ihn in sein Einkaufsnetz. Nun reicht er dem Sohn seinen eigenen Handschuh, einen Fäustling, in den der Knirps den ganzen Arm stecken kann. "Also, welchen hast du dir jetzt ausgesucht?", fragt der Vater und beobachtet dabei die Umrisse der Fischkörper im Bottich. "Soll's dieser Kerl sein?", fragt der Fischhändler die beiden, die bereits in der langen Schlange stehen. Hinter ihnen drängeln sich die Leute. Der Mann mit der blutbespritzten Schürze zeigt dem Knirps einen Karpfen und grinst. David schüttelt den Kopf. Nein, den nicht. "Nein?", fragt der Fischhändler. Schon ist ihm der Humor vergangen. Er fischt einen anderen Karpfen heraus. "Wenn nicht den Peter, dann den Paul. Guck mal, was der für Augen hat!" Der Junge schüttelt wieder den Kopf und zeigt auf den Bottich, in dem ,sein' Karpfen schwimmt. "Papi, den will ich!", sagt er. "Der ist der größte." "Die Bottiche werden der Reihe nach geleert", sagt der Fischhändler zum Vater. "Geh mir nicht auf die Nerven!", sagt der Vater zu David. David macht ein Gesicht, als ob er Tränen hinunterschlucken würde. Er schaut den Vater mit einem Blick an, der wahrscheinlich an ein Versprechen erinnern soll. Die Leute in der Schlange murren. "Wollen Sie hier etwa bis zum Dreikönigstag aussuchen?" "Nehmen Sie nun einen oder nicht?", fragt der Fischhändler den Vater. Der Junge schweigt. "Wir warten", sagt der Vater wütend. "Wir warten, bis der Bottich dort an der Reihe ist."

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