Süchtige Mediziner:Im Suff am Skalpell

Viele Ärzte sind süchtig nach Tabletten, Alkohol oder Nikotin - eine besondere Therapieform hilft den Menschen, von denen sich alle Rat und Stärke erwarten.

Charlotte Frank

Sie hatte nie zu den Menschen gezählt, die bei anderen Hilfe suchen; warum auch, sie wusste schließlich selber am besten, was ihr hilft. Und wie viele Tropfen davon. Es waren sehr viele, jeden Tag ein paar mehr. "Als Ärztin dachte ich, ich hätte das unter Kontrolle", sagt Eva Paul, "aber dann stieg die Dosis und stieg und stieg." Irgendwann hatten die Tropfen ihr Leben weggespült.

Süchtige Ärzte, dpa

Tabletten, Alkohol, Nikotin - viele Ärzte sind abhängig. Die Drogen sollen als Ventil wirken: Mediziner müssen häufig extreme Arbeitszeiten und Stresssituationen bewältigen.

(Foto: Foto: dpa)

Eva Paul hat 20 Jahre Medikamentensucht hinter sich, aber ihr geschundener Körper hat immer noch eine perfekte Fassade. Die Internistin sitzt in der Cafeteria der Oberbergklinik im Schwarzwald, in der spezielle Entzugstherapien für Ärzte angeboten werden.

Sie ist sorgfältig geschminkt, ihr Haar ist modisch geschnitten. "Keiner meiner Freunde wusste von der Sucht", sagt sie, auch Kollegen hätten nichts geahnt. Und die Patienten, die sie im Rausch behandelt hat, erst recht nicht.

Von Ärzten erwartet jeder, dass sie sich im Griff haben

Ähnlich war das bei Anton Kluge, der als Urologe jahrelang "mit ordentlich Pegel" operiert hat. "Ordentlich Pegel" hatte er, wenn er abends zwei Flaschen Wein und ein paar Bier getrunken hatte. So schnitt er täglich Patienten Tumore aus Prostata und Blase.

Niemand hat ihn gestoppt, genau wie bei Eva Paul keiner eingegriffen hat. Beide heißen eigentlich anders, aber sie sind nie als Süchtige erkannt worden und wollen, dass das so bleibt. Von Ärzten erwartet schließlich jeder, dass sie sich im Griff haben. Dass sie sich nicht vergiften. Und selbstverständlich, dass sie Patienten nicht gefährden.

Was für ein Trugschluss: Fünf Prozent der Mediziner trinken regelmäßig zu viel Alkohol, weitere drei Prozent leiden unter einer manifesten Sucht. Vor allem Tablettenabhängigkeit ist stark verbreitet: Mehr als jeder Dritte der süchtigen Ärzte ist medikamentenabhängig, in der Allgemeinbevölkerung ist es nur jeder Sechste.

"Drogen als Ventil immer verfügbar"

Götz Mundle ist selber Arzt, Psychiater an der Oberbergklinik, aber er wirkt eher wie ein Unternehmensberater, so wie er da im grauen Maßanzug in seinem Arbeitszimmer sitzt und erklärt, warum gerade die, die es besser wissen müssten, so oft süchtig werden. "Ärzte glauben immer, für andere da sein zu müssen", sagt er, "sich selber erlauben sie keine Schwäche."

Und das trotz extremer Arbeitszeiten und Stresssituationen, etwa bei Operationen oder im Notdienst. "Viele halten das nicht aus", sagt Mundle, "und dann sind Drogen als Ventil immer verfügbar".

"Viele Ärzte haben Schwierigkeiten mit dem Rollenwechsel"

Aus dem Tal vor der Klinik steigen Wolken auf, in Fetzen verfangen sie sich in den Tannen der Schwarzwaldhügel. Die Klinik ist in ihrer Abgeschiedenheit ein guter Ort für Menschen, die ihre Sucht möglichst diskret behandeln lassen wollen. Niemand weiß, dass Eva Paul hier ist, ihren Kollegen hat sie gesagt, sie fahre in den Urlaub.

Sieben Wochen ist das her, und jetzt sitzt sie in einem eleganten Kleid vor der düsteren Schwarzwaldkulisse und will ihre Geschichte erzählen, "weil so viele Ärzte betroffen sind und sich so wenige trauen, das zu sagen".

Keine Versagensängste zeigen

Bei ihr ging das schon im ersten Jahr als Assistenzärztin los. "Jugend forscht", nennt sie die Zeit, in der sie viel zu früh auf viel zu große Aufgaben losgelassen wurde. Sie war Ende 20 und auf der Intensivstation für Menschenleben verantwortlich. Sie fuhr im Rettungswagen zu Szenen, bei denen Menschen für gewöhnlich die Augen schließen. Sie aber musste handeln, sofort. Ärzte, so sagt Paul, müssten ja immer funktionieren. "Schon an der Uni werden die mit den besten Noten zugelassen, nicht die mit dem besten Charakter", sagt sie.

Also funktionierte sie, zeigte keinem ihre Angst zu versagen. Sie half sich lieber selbst, mit massenweise Paracetamol. Aber das half nur gegen die Kopfschmerzen, nicht gegen das Ohnmachtsgefühl. Also nahm sie irgendwann opioidhaltige Schmerzmittel. Sie saß ja an der Quelle, es war ja leicht.

Alles war leicht mit den Medikamenten im Blut. Die schlechten Gefühle waren heruntergefahren, die Ängste betäubt und die albtraumhaften Bilder von Unfallopfern verschleiert.

Erst in der Therapie kamen sie zurück "und mit ihnen die Erkenntnis: Der Kontrollverlust ging rasend schnell." So sieht Paul das heute. Aber früher redete sie sich ein, sie hätte alles im Griff, obwohl sie unter Entzugssymptomen litt, sobald die Wirkung der Tropfen nachließ: "Schwitzen, Herzrasen, bei Überdosierung Übelkeit", zählt Paul auf.

Wenn sie über ihre Krankheit spricht, klingt das, als spräche sie über eine Dritte. Als wäre die süchtige Eva Paul nicht dieselbe, die gerade so aufrecht im Ledersessel sitzt und die Mechanismen der psychischen und physischen Abhängigkeit von Opioiden erklärt.

Das ist eines der speziellen Probleme, vor dem die Therapeuten hier in der Klinik stehen: "Viele Ärzte haben Schwierigkeiten mit dem Rollenwechsel", sagt Mundle, "sie akzeptieren nicht, dass sie, die Helfer, Hilfe brauchen." Immer wieder wollen Patienten deshalb erstmal mit Mundle über sein Konzept diskutieren, "manchmal stellen sie ihren Mitpatienten sogar Rezepte aus", sagt Mundle.

Trinken zur Belohnung, Trinken zur Ablenkung

Noch schwerer wiegt für ihn, dass die meisten Mediziner sich erst auf einen Entzug einlassen, wenn sich ihre Abhängigkeit über Jahre verfestigt hat. "Ärzte können Sucht viel länger als andere verstecken, sie wissen ja, wie es geht", sagt er.

Und sie haben ein gesteigertes Interesse daran, nicht nur aus Angst um ihre Reputation - sondern vor allem um ihre Approbation. Schließlich würde sich wohl niemand freiwillig bei einem Alkoholiker unters Messer legen. Und die Ärztekammern dulden kein Risiko für Patienten.

Doch erkennen die Kammern zunehmend, dass Ärzte durch Strafen nicht davon abgeschreckt werden, Drogen zu nehmen - sondern davon, in Therapie zu gehen. "Das Motto heißt: Therapie vor Strafe", sagt Klaus Beelmann, Geschäftsführer der Ärztekammer Hamburg.

Entzug oder Anzeige

Fast alle Landeskammern haben heute "Interventionsprogramme", die Betroffenen durch die Zusammenarbeit von Kliniken, ambulanten Therapeuten und Selbsthilfegruppen den Weg in die Abstinenz und damit zurück in den Beruf ebnen sollen. "Will sich einer aber trotz Sucht nicht behandeln lassen, bricht er die Therapie ab oder hält sich nicht an Vereinbarungen, wird die Approbation sehr wahrscheinlich entzogen", sagt Beelmann.

Anton Kluge war so ein Fall, er ist "an einer Strafe nur knapp vorbeigeschrammt", sagt er. Jahrelang meinte der Urologe, er müsse nichts gegen sein Alkoholproblem tun, er würde besser arbeiten als alle anderen. Wenn er das wieder unter Beweis gestellt hatte, trank er zur Belohnung, wenn er Fehler gemacht hatte, trank er zur Ablenkung.

Es war Glück, dass nie ein Patient zu Schaden gekommen ist - und dass Kluge einmal so betrunken zum Dienst kam, dass seine Kollegen die Augen nicht mehr vor seiner Sucht verschließen konnten.

Entzug oder Anzeige, vor diese Wahl stellte ihn sein Chef daraufhin. So kam Kluge in die Oberbergklinik, acht Wochen später war er trocken - die Erfolgsquote von Mundles Patienten liegt bei 80 Prozent. Kluge durfte sogar wieder operieren, bis er nach zwei Jahren in Frührente ging.

Auch Eva Paul will nach dem Entzug wieder arbeiten. "Aber ich will dann mehr auf meine Grenzen achten", sagt sie. Sie will tun, was sie ihren Patienten immer sagt: Auf sich selbst achten.

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