Am besten verschafft man sich erst mal einen Überblick über dieses Viertel, das manche verklären und andere verachten. Nur mal sehen, wer hier so wohnt. Also: An der Ecke zur Weberstraße residieren die örtlichen Hell’s Angels, graue Fassade, die Fenster vergittert. Lädt nicht unbedingt zum Eintreten ein. Zwei Häuser weiter folgt wider Erwarten kein Tattoo-Studio, sondern der Schwäbische Heimatbund und der Verschönerungsverein Stuttgart.
Der Verschönerungsverein hätte in diesem Viertel einiges zu tun. Die Häuser bröckeln, manche der Gassen wurden offenbar zu Müllhalden umfunktioniert. An den Hauswänden lehnen alte Matratzen, aus den Mülltonnen quellen Pappkartons und leere Flaschen. Biegt man bei den Hell’s Angels um die Ecke, blinken einem die Schilder jener Häuser entgegen, die das Stuttgarter Leonhardsviertel prägen. „Girl’s“, steht da. Oder „Eros Center“, wo eine schmale Treppe hinaufführt in die Zimmer, in denen die Prostituierten warten. Die meisten Freier kommen nach Feierabend. Oder spät in der Nacht.
Das Leonhardsviertel ist ein „Bermuda-Dreieck“, sagen manche, weil sich hier Menschen verlieren zwischen den Bordellen und Kneipen, den Junkies und den Frauen vom Straßenstrich. Andere sagen, das Viertel sei eine Art Kulturgut, weil Stuttgart nur hier eine echte Großstadt sei. An welchem Ort kämen sich sonst Rocker, Prostituierte und Schwäbischer Heimatbund so nahe?
Natürlich ist das Leonhardsviertel nicht so allumfassend runtergerockt wie das Frankfurter Bahnhofsviertel. Es wird auch nicht so mythisch verehrt und besungen wie die Hamburger Reeperbahn. Unter Deutschlands Rotlichtvierteln ist das Leonhardsviertel eher eine kleine Nummer: zwei Straßen nur, ein paar Leuchtschilder, ein paar Laufhäuser. Doch in diesen Tagen ist es Schauplatz eines großen Konflikts: „Stuttgart beschließt Prostitutionsverbot im Leonhardsviertel“, schrieb die Stuttgarter Zeitung im März. Oder, derbe Schlagzeile aus der Kontext-Wochenzeitung: „Ausgebumst“.
Die Stadt will die Bordelle aus dem Viertel drängen – und mit ihnen die Drogen und die Gewalt, so argumentieren Befürworter im Gemeinderat. Sie wollen den „Schandfleck“ in ein lebenswertes Viertel verwandeln, mit mehr Wohnraum für die Stuttgarter, mehr Kultur. Der Haken ist: Die Bordelle sind schon da, manche seit Jahrzehnten. Und die Betreiber denken gar nicht daran, das Viertel zu räumen. Deshalb geht es nicht nur um die Frage, wie die Stadt mit Prostitution umgeht. Sondern auch darum, ob sie tatsächlich entscheiden kann, was in ihren Vierteln passiert.
Das Viertel soll sich grundlegend ändern: „Das Milieu soll auf ein sozialverträgliches Maß zurückgedrängt werden“
An einem kühlen Tag im Frühjahr bleibt Veronika Kienzle an einem braunen Haus mit heruntergelassenen Rollläden in der Weberstraße stehen und mustert skeptisch die Überwachungskamera, die über der Tür hängt. Ob die wohl genehmigt ist? Kienzle ist die ehrenamtliche Bezirksvorsteherin von Stuttgart-Mitte und Mitglied der Grünen. Sie kann durch das Viertel führen wie ein Touristen-Guide, zu jedem Haus eine Anekdote: Hier habe im zweiten Stock mal eine illegale Bondage-Party stattgefunden. Und in dem Haus ein paar Meter die Straße rauf würden private Zimmer „gewerblich genutzt“. Kienzle schüttelt den Kopf: „Wir streiten über Gendersternchen, aber hier geht der Punk ab.“
Diesen Zustand will sie nicht mehr hinnehmen, das Viertel soll sich grundlegend verändern: „Das Milieu soll auf ein sozialverträgliches Maß zurückgedrängt werden“, sagt Kienzle, wobei das gar nicht so einfach ist. In Deutschland unterliegt Prostitution kaum Regeln. Im Grunde müssen sich Prostituierte nur anmelden. Bordell-Betreiber benötigen zwar seit 2017 eine Erlaubnis, andererseits sind manche Betriebe schon so lange hier, dass sie zumindest aus Sicht der Betreiber Bestandsschutz genießen, weil sie schon da waren, als Bordelle keine Genehmigung brauchten. Es ist kompliziert.
Doch jetzt glaubt die Stadt eine Lösung für ihr Bordell-Problem gefunden zu haben: einen neuen Bebauungsplan. Das Leonhardsviertel soll offiziell zum „Ausgehviertel“ aufgewertet werden, erlaubt und erwünscht sind unter anderem Discos und Tanzlokale. Entscheidend ist ein Satz gleich auf der ersten Seite der Beschlussvorlage: „Bordelle und bordellartige Betriebe sind nicht zulässig.“ Nach der Sommerpause wird der Gemeinderat über den Plan abstimmen – und ihn wohl auch beschließen. Für Kienzle wäre es ein Triumph.
Seit zwanzig Jahren ist sie Bezirksvorsteherin. Und nein, das Leonhardsviertel war natürlich nie ein Hort schwäbischer Spießbürgerlichkeit. Auch früher gab es hier Prostitution, aber da habe sie die Frauen mit Namen gekannt, sagt Kienzle, heute kommen die meisten aus Rumänien oder Ungarn und bleiben nicht lange. Sie überlegt kurz. „Die Frage ist, wie viel Milieu verträgt ein Quartier, ohne zur ‚No-go-Area‘ für Kinder, Frauen, Anwohner zu werden?“ So, wie sie die Sache sieht, ist das Leonhardsviertel aus der Balance geraten.
Die Stadt verkaufte Häuser an Bordell-Betreiber – und wunderte sich, dass dort Bordelle einzogen
Die Stadt selbst war daran nicht unbeteiligt. Anfang der 2000er-Jahre verkaufte sie einige ihrer Häuser an Bordell-Betreiber, um sich anschließend darüber zu wundern, dass dort Bordelle einzogen. Später hat sie einen Teil der Häuser wieder zurückgekauft, für sehr viel mehr Geld. Der Polizei zufolge gibt es derzeit vier Bordelle, in denen rund 50 Prostituierte arbeiten. Wobei Kienzle die legale Prostitution gar nicht für das Hauptproblem hält. Schlimmer sei, „was an den Rändern entsteht, die Drogen, die Straßenkriminalität“. Zum Beispiel der Straßenstrich, der eigentlich verboten ist, aber trotzdem existiert. Die Polizei spricht von einem Viertel, das „im Fokus polizeilicher Brennpunktmaßnahmen“ stehe.
Das Leonhardsviertel ist das älteste Quartier der Stadt. Hier steht zum Beispiel das „Alte Armenhaus“, erbaut vermutlich im 16. Jahrhundert. Aber die historische Architektur fällt kaum auf, wenn an den Hauswänden Schilder mit sich räkelnden Frauen hängen. Kienzle bleibt vor einem der Bordelle stehen, sie zögert, weil sie jetzt erzählen könnte, was sie davon hält, wenn junge Frauen, gerade mal volljährig, in bester Stuttgarter Lage ihre Körper verkaufen. Aber Kienzle ist sehr vorsichtig geworden. Jeder Satz, jede Äußerung könnte Ärger bedeuten. Oder sogar eine Klage.
Sie will das Viertel verändern. Andere wollen, dass alles so bleibt.
An einem Tag Mitte Juni sitzt John Heer in seinem Büro in der Weberstraße, schwarzes Polo-Shirt, Jeans. Er betreibt zwei Bordelle und eine Table-Dance-Bar. An der Wand hängt das große Bild eines Mercedes SLS, der habe mal einem bekannten Manager gehört, sagt Heer, heute gehört er ihm. Der Kampf um das Viertel, das ist auch der Kampf zwischen der Bezirksvorsteherin und dem Bordell-Betreiber.
Gerade erst sind sich die beiden in einem Saal des Oberlandesgerichts Stuttgart begegnet. Es ging dort um ein Interview Kienzles in der Kontext-Wochenzeitung. Darin sagte sie unter anderem, dass Heer ein nicht genehmigtes Bordell betreibe – ein Vorwurf, den Heer so nicht stehen lassen wollte, deshalb klagte er auf Unterlassung. „Wenn der Laden illegal wäre, dann wäre er doch längst geschlossen“, sagt er vor Gericht.
Sind die Bordelle im Leonhardsviertel legal, illegal oder irgendwas dazwischen?
Jetzt könnte man meinen, dass es ja wohl nicht allzu schwer sein kann, nachzuprüfen, ob ein Bordell genehmigt wurde oder nicht. Nur – so einfach ist es leider nicht. Nicht einmal Juristen sind sich einig, ob die Bordelle im Leonhardsviertel legal, illegal oder irgendetwas dazwischen sind. Was man sicher weiß: Die Stadt hat die Bordelle zumindest lange Zeit geduldet. Im neuen Bebauungsplan findet sich dazu ein bemerkenswerter Satz, der nicht dafür spricht, dass die Stadt bisher Herrin der Lage war: „Innerhalb des Plangebiets sind keine baurechtlich genehmigten Bordelle und bordellartigen Betriebe vorhanden. Allerdings sind verschiedene derartige Betriebe tatsächlich vorhanden.“
Dass der Bebauungsplan nun Bordelle explizit untersagt, zeigt, dass es die Stadtpolitik ernst meint. „Wir werden auf jeden Fall gegen den neuen Bebauungsplan klagen“, sagt Heer in seinem Büro. Ob er sich Sorgen macht? Heer schüttelt den Kopf, in seinen Betrieben gebe es schon seit 1973 Prostitution, da gelte Bestandsschutz. Im Bebauungsplan steht allerdings: „Die Ziele dieses Bebauungsplans werden höher gewichtet als das Interesse der Betriebsinhaber und Eigentümer an einem gesicherten Bestandsschutz.“
Es ist keineswegs so, dass nur eine ambitionierte Bezirksvorsteherin unzufrieden wäre mit dem Zustand des Leonhardsviertels. Heer geht die Treppe runter, durch einen Gang, der in seine Table-Dance-Bar Messalina führt. Vorbei an silbernen Stangen und gewaltigen Champagnerflaschen, dann tritt er in die Leonhardstraße, in die betonierte Leere. „Ein Schandfleck“, sagt er. Da ist er sich mit Kienzle vollkommen einig.
Die Bordellbesitzer wünschen sich Alternativen
Nur sind aus Heers Sicht daran nicht die Bordelle schuld, sondern die Kneipen, die bis spätnachts Lärm produzieren, der Müll, die Drogen. Schuld ist also: die Stadt Stuttgart, die sich nicht kümmert. Wer ihm genau zuhört, nimmt auch eine gewisse Verhandlungsbereitschaft wahr. Falls sich die Stadt nicht zu ihrem Rotlichtviertel bekenne, sagt Heer, sollte sie „die aktuellen Bordellbesitzer rauskaufen oder ihnen alternative Standorte anbieten, um weiterhin sichere Arbeitsplätze für die Prostituierten zu garantieren“.
Nach einem Bekenntnis zum Rotlichtviertel sieht es gerade nicht aus, auch wenn nicht nur Bordell-Betreiber die Existenz eines Rotlichtviertels zur städtischen Grundversorgung zählen. Wie sagte es mal ein langjähriger FDP-Gemeinderat? „Jede Großstadt hat Bordelle. Ohne wäre Stuttgart ein Provinzkaff.“
Erstaunlich an der Bordell-Verbots-Debatte ist, dass dabei eine Gruppe kaum vorkommt: die Prostituierten. Im Bebauungsplan werden sie mit keinem Wort erwähnt. So, als wären sie gar nicht da.
Deshalb am Ende des Rundgangs, ein kurzes Treffen mit Sabine Constabel. Sie sitzt im Café La Strada, der städtischen Anlaufstelle für Prostituierte. Hierher können die Frauen kommen, wenn sie Hilfe brauchen, eine warme Mahlzeit – oder eine Wohnung. Was würde es für die Prostituierten bedeuten, wenn die Bordelle schließen?
Nichts, sagt die Sozialarbeiterin. Sie würden dann in einer anderen Straße arbeiten, in einem anderen Viertel. „Sie schädigt nicht der Ort. Die Tätigkeit an sich ist schädlich.“ Für den Körper, für die Psyche. Die 150 Euro Zimmermiete pro Nacht arbeiteten die Frauen schrittweise rein, mal 30 Euro, mal 50 Euro.
Wenn Constabel über Prostitution spricht, dann in den Worten der Marktwirtschaft: Leistung, Angebot, Nachfrage. Sicher, sie hat eine Meinung zu diesem System, in dem sich Männer die sexuelle Verfügbarkeit von Frauen kaufen. Aber weil Constabel bei der Stadt arbeitet, muss sie mit politischen Äußerungen aufpassen. Vielleicht so viel: „Nur die Politik kann etwas Grundsätzliches am System Prostitution ändern.“
Nicht, dass sie etwas dagegen hätte, wenn das Leonhardsviertel aufgemöbelt würde, wenn die Stuttgarter ein neues schickes Ausgehviertel bekämen. Sie freue sich sogar, sagt sie. Aber es wäre kein großer Schlag gegen die Prostitution, keine grundsätzliche Veränderung des Systems.
Es wäre eine Verschönerungsmaßnahme.

