Süddeutsche Zeitung

Studie zu Jugendkriminalität: "Mädchen sind häufiger gewalttätig als angenommen"

Die meisten Deutschen begehen bis zu ihrem 18. Lebensjahr mindestens eine Straftat, heißt es in einer aktuellen Studie. Besonders weibliche Jugendliche werden häufiger straffällig als offizielle Polizeistatistiken vermuten lassen.

Von Felicitas Kock

Ob Diebstahlsdelikt oder Sachbeschädigung: 84 Prozent der Jungen und 69 Prozent der Mädchen haben bis zur Vollendung ihres 18. Lebensjahres schon mindestens eine leichte Straftat begangen. Das besagt die Langzeitstudie "Kriminalität in der modernen Stadt".

Seit 2002 wurden dafür einmal jährlich 3400 Duisburger Jugendliche zu Straftaten, aber auch zu familiären Hintergründen, Freundeskreisen und zur Wirkung angedrohter Strafen befragt. Die Ergebnisse lassen sich den Autoren zufolge weitgehend auf andere deutsche Städte übertragen. Von der polizeilichen Kriminalstatistik (PDF) unterscheiden sie sich mitunter deutlich. Die Studie erlaubt einen Blick in den Dunkelbereich der Kriminalität, da auch jene Straftaten verzeichnet sind, die der Polizei gar nicht erst gemeldet wurden.

Kaum Unterschiede bei Eigentumsdelikten

Eine der unerwarteten Erkenntnisse der Untersuchung betrifft weibliche Jugendliche. Die Polizeistatistik geht davon aus, dass Mädchen nur etwa halb so viele Eigentumsdelikte begehen wie Jungen. Die Befragung zeichnet ein anderes Bild: Demnach stehen weibliche Jugendliche ihren männlichen Altersgenossen in Sachen Ladendiebstahl kaum nach - vor allem nicht im kritischen Alter zwischen 14 und 15 Jahren.

Mindestens ebenso überraschend sind die Zahlen im Bereich der seltener auftretenden Gewaltkriminalität. "Mädchen sind häufiger gewalttätig als bisher angenommen", sagt Klaus Boers, Kriminologe an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Laut Polizeistatistik begingen Jungen sechsmal häufiger Gewaltdelikte als Mädchen. Bei der Befragung habe sich dagegen ergeben, dass 61 Prozent der Jungen schon einmal mit einer Gewalttat straffällig geworden seien - aber auch 37 Prozent der Mädchen.

"Gerade was einfache und mittlere Gewaltdelikte angeht, sind Mädchen gut dabei", sagt Boers, der die Untersuchung gemeinsam mit dem Soziologen Jost Reinecke von der Universität Bielefeld leitet. In diese Kategorie fällt unter anderem Körperverletzung, die ohne den Einsatz einer Waffe verübt wird.

"Das war ein Mädchen, also kann es nicht so schlimm sein"

Warum die Diskrepanz zur Kriminalstatistik? "Mädchen werden einfach nicht so schnell angezeigt", sagt Boers. Die Delikte würden entweder nicht als so schwer wahrgenommen oder die Opfer trauten sich nicht, sich bei der Polizei zu melden. "Gerade Jungen geben ja ungern zu, wenn sie von einem Mädchen drangsaliert werden", sagt Boers. Auch von Seiten der Beamten seien gewisse Vorbehalte denkbar. Nach dem Motto: "Das war ein Mädchen, also kann es nicht so schlimm sein."

Ganz anders ist die Lage bei schwerer Gewalt, Raub oder Körperverletzung unter Einsatz einer Waffe: Hier gibt es der Studie zufolge deutlich weniger jugendliche Täterinnen als Täter. Auch in der sehr kleinen Gruppe der Intensivtäter, die immer wieder straffällig werden, sind Mädchen ganz klar in der Minderheit. Diese Gruppe braucht in der Regel länger, oft bis zum 20. Lebensjahr, um wieder zurück in die Normalität zu finden.

Für die meisten Jugendlichen ist die "kriminelle Karriere" dagegen bald wieder vorbei. Sie werden einmal mit einem kleineren Delikt straffällig und finden dann wieder auf den richtigen Weg zurück. Und das - bei Mädchen wie bei Jungen -, ohne dass Polizei und Justiz eingreifen müssen. Dabei gibt es nur einen Unterschied: Bei den Mädchen geht dieses "Hinauswachsen" laut Boers deutlich schneller.

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