Streit ums Kind:Baby von Eltern fast zerrissen

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"Ick habe jezogen wie een Verrückter": Das Amtsgericht in Berlin verhandelt über den Fall eines Babys, das im Gezerre zwischen seinen Eltern beinahe zerrissen wurde - und zwar im wörtlichen Sinn.

Hans Holzhaider, Berlin

Die Gouverneursfrau und das Küchenmädchen Grusche streiten um den kleinen Michel, und der Richter Azdak muss entscheiden. Er lässt einen Kreidekreis auf den Boden malen und den Michel hineinstellen. "Fasst das Kind bei der Hand", befiehlt er. "Die richtige Mutter wird die Kraft haben, das Kind aus dem Kreis zu ziehen."

Zweimal macht er die Probe, und zweimal lässt Grusche das Kind los. "Ich hab's aufgezogen", schluchzt sie. "Soll ich's zerreißen?" "Damit hat der Gerichtshof festgestellt, wer die wahre Mutter ist", entscheidet der Richter. So steht es bei Bert Brecht, im "Kaukasischen Kreidekreis".

Ein Kind ist keine Stoffpuppe

Bildung hat es nicht, das Kindermädchen Grusche, aber das weiß es: Dass man an einem Kind nicht zerren darf wie an einer Stoffpuppe.

Sven, 30, und Martina, 23, (Namen geändert) haben immerhin einen Hauptschulabschluss, aber über den Umgang mit einem kleinen Kind müssen sie wohl noch viel lernen. Sven und Martina haben eine kleine Tochter, Vivian. Im letzten November, das Kind war gerade sechs Monate alt, kam es zu einem Streit. Sven war wütend, weil die kleine Vivian sich von ihm nicht beruhigen lassen wollte.

"Bei mir hat se immer nur jeweent", sagt er vor der Richterin am Berliner Amtsgericht Tiergarten. "Bei der Martina wurd se immer sofort ruhig, von eener Sekunde auf die andere. Ick wollte, dass det bei mir ooch funktioniert. Sie sollte Vaterjefühle uffbauen."

Martina hatte das Kind auf dem Arm, und Sven war so frustriert und so eifersüchtig, dass er Vivian am Bein packte und zog. "Ick wollte se ooch mal haben", sagt er. Aber Martina hielt das Baby fest. "Ick habe jezogen wie een Verrückter", sagt Sven. Das Kind entwickelte aber keinerlei Vatergefühle, es schrie wie am Spieß. Zehn, 15 Sekunden lang ging das so - Sven zerrte am linken Bein, Martina hielt die Arme fest - dann ließ Sven endlich wieder los.

Zum Kinderarzt trauten sich die beiden zunächst nicht, sie hatten die berechtigte Sorge, man könnte ihnen das Kind wegnehmen. Aber nach zwei Tagen schwoll das Bein so an, dass sie Vivian doch zum Arzt brachten. Sie erzählten, das Kind sei mit dem Fuß in einer Spieluhr im Bett hängengeblieben, als sie es herausheben wollten.

"Konnte man zunächst nicht ausschließen", sagt die Kinderärztin, die als Zeugin gehört wird. Aber dann kam das Ergebnis aus der Radiologie: eine Eckfraktur des linken Oberschenkelknochens, das heißt, ein kleines Stück vom Knochen war regelrecht abgerissen. Nun wurde die Polizei eingeschaltet, und schließlich gestanden Sven und Martina, was wirklich passiert war.

Vivian kam zunächst zu einer Pflegefamilie, und Sven und Martina wurden vom Jugendamt zu einer Psychotherapeutin geschickt. Seit ein paar Wochen ist die kleine Familie wieder vereint, sie nimmt an einem Familienprojekt teil, wo sie lernen, mit all den Problemsituationen umzugehen, die ja auch anderen Eltern nicht fremd sind.

"Sie sind sehr kooperationsbereit", sagt eine Betreuerin, "sie kommen sehr gewissenhaft zu allen Beratungsterminen". Vater Sven muss jetzt nicht mehr eifersüchtig sein. "Vivian freut sich jetzt immer, wenn sie den Papa sieht", sagt Martina, "sie ist ganz zutraulich, ganz das Gegenteil von früher."

Da hätte dann wohl auch der Richter Azdak ein Einsehen gehabt, auch wenn weder der Vater noch die Mutter die Elternprobe bestanden haben.

Acht Monate Freiheitsstrafe für beide fordert der Staatsanwalt, die aber natürlich zur Bewährung auszusetzen sei. Die Amtsrichterin bleibt mit ihrem Urteil noch einen Monat darunter.

© SZ vom 20.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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