Streit an den Festtagen:"Bei Wut empfehle ich einen Spaziergang"

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Weihnachten, das Fest der Harmonie? Von wegen. In vielen Familien wird gerade jetzt gestritten. Ein Experte erklärt, warum - und gibt Ratschläge, wie sich zu viel Zoff vermeiden lässt.

Interview von Friederike Zoe Grasshoff

Wolfgang Hantel-Quitmann, 65 Jahre alt, ist Professor für Klinische und Familienpsychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. In seiner Praxis berät er Paare und Familien. Er hat vier Kinder.

SZ: Wieso stressen die Menschen sich gerade in der angeblich besinnlichen Zeit so?

Wolfgang Hantel-Quitmann: Weihnachten ist das Fest der Liebe - und die Liebe ist unser neuer säkularisierter Gott. An Weihnachten haben wir nichts anderes im Sinn als das Maximum: das Maximum an Liebe, Zeit, Harmonie. Der Perfektionsdruck kommt auch daher, dass man dem Fest noch immer ein traditionelles Familienbild unterstellt. Dieses Bild ist im Grunde passé, rein statistisch ist die traditionelle Familie aus Mutter, Vater, Kind in der Minderheit.

Weihnachten ist auch ein Bilanz-Datum: Noch schnell die Arbeitsprojekte abschließen, dann Geschenke kaufen und kochen.

Diese Raserei ist gefährlich, für die Beziehungen wie für den Umgang mit Gefühlen. Niemandem hilft es, wenn er seine Liste zwar abarbeitet, aber am ersten freien Tag einen Tinnitus kriegt. Bei Menschen, die immer auf Hochdruck laufen, ist die Gefahr groß, dass Konflikte ausbrechen, wenn die massiven Anforderungen von außen nicht mehr da sind. Schwierig ist das Datum aber vor allem deswegen, weil Alltäglichkeiten wie das Kochen stark emotional besetzt sind. Weihnachten muss aber nicht perfekt sein, sondern nur gut genug.

Selbst gut genug gelingt oft nicht, viele Familien streiten an Weihnachten.

Wie im echten Leben sind es auch an diesen Tagen meist Banalitäten, die zu Konflikten führen: wann der Baum geschmückt wird, was gegessen wird, wer eingeladen wird.

Also streiten die Menschen eher über Kleinigkeiten als über die großen Themen: Verbundenheit, Trennung, Liebe.

Nein, nein. Diese Banalitäten stehen ja symbolisch für Liebe und Zuwendung. Kinder nennen das auch: Wer ist der Bestimmer? Wer legt fest: Wie groß soll der Baum sein, kommt da noch Lametta dran, oder ist das ökologisch nicht mehr vertretbar?

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Es geht also auch um Macht?

Aus psychologischer Sicht geht es nie um die äußere Handlung an sich, sondern eher um ihre symbolische Bedeutung. Was latent an Konflikten vorhanden ist, bricht in banalen Alltagssituationen aus. Der Stress baut sich lange vor Weihnachten auf und entlädt sich zum Fest. Aber es gibt ja auch guten Streit: Wenn die Beziehung einigermaßen gut läuft, können in diesen Tagen auch Dinge angesprochen werden, zu denen man sonst nicht kommt.

Also nicht harmoniesüchtig an die Sache rangehen und ruhig eskalieren lassen?

Nein, nein! Wichtig ist, dass man den Konflikt klärt und nicht einfach nur seine eigene Meinung durchsetzt. Bei Wut empfehle ich einen Spaziergang in der Natur, kurz abreagieren. Wenn das nicht gelingt, am besten erst einmal den Kontakt vermeiden.

Das ist doch genau das Problem: Man sitzt tagelang mit Menschen zusammen, die man im Zweifelsfall nur ein paar Mal im Jahr für ein Abendessen trifft.

Natürlich. Aber momentan ist es so warm, dass ein Spaziergang drin ist. Auf keinen Fall tagelang im Wohnzimmer hocken!

Kommen wir zu Beispielen aus der Praxis: Ich muss Verwandte besuchen, die ich gar nicht sehen will.

Versuchen Sie nicht, es allen recht zu machen! Das ist ein generelles Problem rund um die Weihnachtsplanung. Ich würde immer empfehlen, das Gespräch zu suchen, also: Liebe Tante, du weißt, dass ich dich sehr liebe. Ich hab' in diesem Jahr aber was anderes vor. Sei mir nicht böse, ich komme dich bald wieder besuchen.

Man muss also für sich selbst sorgen ?

Auf jeden Fall. Weil es ja viel schlimmer ist, über die eigenen Grenzen hinwegzugehen. Dann kommt es erst recht zum Streit.

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Wie können Patchwork-Familien damit umgehen, wo und wie gefeiert wird?

In Patchwork-Familien hat jedes Familienmitglied eine andere Vorstellung davon, wer zur Familie gehört. Von den Eltern würde ich mir wünschen, sowohl von den genetischen als auch von den sozialen: dass sie nicht versuchen, ihre Standards durchzusetzen, sondern die Flexibilität aufbringen, die Bedürfnisse der Kinder zu berücksichtigen. Am besten ist es, mit ihnen über ihre Wünsche zu reden und es nicht als Absage an das eigene Ego oder das Familienmodell zu verstehen, wenn das Kind dann sagt: Ich will an Heiligabend zu Papa. In gar keinem Fall aber sollte man Kinder in einen Loyalitätskonflikt stürzen.

Man kann Kinder mit diesen Fragen auch überfordern.

Der Wunsch des Kindes ist ja auch nicht gleich Gebot. Neulich hatte ich zwei Scheidungskinder in meiner Praxis sitzen, die mit beiden Eltern feiern wollten, ich habe sie enttäuschen müssen: Die beiden können und wollen nicht mehr miteinander leben. Dann redet man eben über die zweitbeste Möglichkeit.

Nächstes Szenario: Die Eltern sticheln, weil sie enttäuscht sind, dass sie noch immer keine Enkelkinder haben.

Wenn man es bis zum Gänse-Essen verpasst hat, seine Eltern zu erziehen, dann ist es wahrscheinlich auch am ersten Weihnachtstag nicht ratsam, dieses Fass aufzumachen. Man kann seinen Ärger zwar zeigen, sollte das große Gespräch aber erst nach Weihnachten suchen.

Dieses ständige Abrechnen ist aber ein elementarer Teil des Fests: Haben die Kinder was erreicht? Bringen einem die Mitmenschen genug Wertschätzung entgegen?

Trotzdem sollte man sich solche Sticheleien verkneifen und ernste Themen zu einem anderen Zeitpunkt besprechen. Auch an Weihnachten sollte man aus Beziehungen keine Ansprüche ableiten. Liebe und Wertschätzung kann man nicht einklagen.

Was, wenn die Geschwister zu spät kommen und dann während des Essens SMS schreiben? Konfrontieren?

Wenn mittlerweile erwachsene Kinder an Weihnachten zusammentreffen, ist das aus psychologischer Sicht eine Regression: Irgendwie ist man wieder 15 und nicht 40, da kommen sehr alte Gefühle hoch. Und der große Bruder macht natürlich genauso blöde Sprüche wie damals. Bei solchen Kleinigkeiten würde ich raten, kein Familiendrama anzuzetteln, sondern das kurz unter vier Augen zu besprechen.

Stichwort Geschenke: Ist die finanzielle Belastung auch ein Grund für Streit?

Viele Menschen wollen sich von ihren Schuldgefühlen freikaufen - und entschuldigen sich mit einer Masse an Geschenken für die mangelnde Präsenz im letzten Jahr. Hier könnte man mal über sich selbst nachdenken, in sich gehen.

Also ist es die beste Vorbereitung, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen?

Völlig richtig. Viele Menschen haben ein Modell für Weihnachten im Kopf, das aus ihrer eigenen Kindheit stammt und wie eine Art Pop-up plötzlich wieder ins Hirn dringt. Die Essenabfolge, der Geruch, der Baumschmuck - das sind Normalitätsfolien, die wir alle in uns tragen. Reflexion heißt in diesem Fall auch: Wie bringt man seine Vorstellungen und die der Familie oder des Partners zusammen, damit es ein schönes und besinnliches Fest wird?

Ist eine besinnliche Weihnachtszeit in unserer überfrachteten Zeit noch möglich?

Ich habe den Eindruck, dass es schwieriger wird. Gefordert ist heute der flexible und mobile Mensch. Eine besinnliche Weihnacht ergibt sich nicht mehr von alleine. Man muss sich dem digitalen Sog ganz aktiv entziehen.

Sie haben selbst vier Kinder, Ihre Frau ist Psychotherapeutin. Wie sorgen Sie für Harmonie?

Miteinander vorher über alles reden - und trotzdem offen für Überraschungen sein. Mein 30-jähriger Sohn bereitet gerade das Essen vor, ein 30-Gänge-Menü aus Tapas. Nur deswegen kann ich stundenlang mit Ihnen über Weihnachten sprechen.

© SZ vom 23.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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