Wolfgang Hantel-Quitmann, 65 Jahre alt, ist Professor für Klinische und Familienpsychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. In seiner Praxis berät er Paare und Familien. Er hat vier Kinder.
SZ: Wieso stressen die Menschen sich gerade in der angeblich besinnlichen Zeit so?
Wolfgang Hantel-Quitmann: Weihnachten ist das Fest der Liebe - und die Liebe ist unser neuer säkularisierter Gott. An Weihnachten haben wir nichts anderes im Sinn als das Maximum: das Maximum an Liebe, Zeit, Harmonie. Der Perfektionsdruck kommt auch daher, dass man dem Fest noch immer ein traditionelles Familienbild unterstellt. Dieses Bild ist im Grunde passé, rein statistisch ist die traditionelle Familie aus Mutter, Vater, Kind in der Minderheit.
Weihnachten ist auch ein Bilanz-Datum: Noch schnell die Arbeitsprojekte abschließen, dann Geschenke kaufen und kochen.
Diese Raserei ist gefährlich, für die Beziehungen wie für den Umgang mit Gefühlen. Niemandem hilft es, wenn er seine Liste zwar abarbeitet, aber am ersten freien Tag einen Tinnitus kriegt. Bei Menschen, die immer auf Hochdruck laufen, ist die Gefahr groß, dass Konflikte ausbrechen, wenn die massiven Anforderungen von außen nicht mehr da sind. Schwierig ist das Datum aber vor allem deswegen, weil Alltäglichkeiten wie das Kochen stark emotional besetzt sind. Weihnachten muss aber nicht perfekt sein, sondern nur gut genug.
Selbst gut genug gelingt oft nicht, viele Familien streiten an Weihnachten.
Wie im echten Leben sind es auch an diesen Tagen meist Banalitäten, die zu Konflikten führen: wann der Baum geschmückt wird, was gegessen wird, wer eingeladen wird.
Also streiten die Menschen eher über Kleinigkeiten als über die großen Themen: Verbundenheit, Trennung, Liebe.
Nein, nein. Diese Banalitäten stehen ja symbolisch für Liebe und Zuwendung. Kinder nennen das auch: Wer ist der Bestimmer? Wer legt fest: Wie groß soll der Baum sein, kommt da noch Lametta dran, oder ist das ökologisch nicht mehr vertretbar?
Es geht also auch um Macht?
Aus psychologischer Sicht geht es nie um die äußere Handlung an sich, sondern eher um ihre symbolische Bedeutung. Was latent an Konflikten vorhanden ist, bricht in banalen Alltagssituationen aus. Der Stress baut sich lange vor Weihnachten auf und entlädt sich zum Fest. Aber es gibt ja auch guten Streit: Wenn die Beziehung einigermaßen gut läuft, können in diesen Tagen auch Dinge angesprochen werden, zu denen man sonst nicht kommt.
Also nicht harmoniesüchtig an die Sache rangehen und ruhig eskalieren lassen?
Nein, nein! Wichtig ist, dass man den Konflikt klärt und nicht einfach nur seine eigene Meinung durchsetzt. Bei Wut empfehle ich einen Spaziergang in der Natur, kurz abreagieren. Wenn das nicht gelingt, am besten erst einmal den Kontakt vermeiden.
Das ist doch genau das Problem: Man sitzt tagelang mit Menschen zusammen, die man im Zweifelsfall nur ein paar Mal im Jahr für ein Abendessen trifft.
Natürlich. Aber momentan ist es so warm, dass ein Spaziergang drin ist. Auf keinen Fall tagelang im Wohnzimmer hocken!
Kommen wir zu Beispielen aus der Praxis: Ich muss Verwandte besuchen, die ich gar nicht sehen will.
Versuchen Sie nicht, es allen recht zu machen! Das ist ein generelles Problem rund um die Weihnachtsplanung. Ich würde immer empfehlen, das Gespräch zu suchen, also: Liebe Tante, du weißt, dass ich dich sehr liebe. Ich hab' in diesem Jahr aber was anderes vor. Sei mir nicht böse, ich komme dich bald wieder besuchen.
Man muss also für sich selbst sorgen?
Auf jeden Fall. Weil es ja viel schlimmer ist, über die eigenen Grenzen hinwegzugehen. Dann kommt es erst recht zum Streit.