Straffällige Flüchtlinge:Fünf Punkte, in denen die Kriminalstatistik oft missverstanden wird

Die Zahl der straffälligen Flüchtlinge ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen, besagt die Kriminalstatistik. Doch die Zahlen bieten Raum für falsche Interpretationen. Ein Experte klärt auf.

Von Kerstin Lottritz

Wenn der Bundesinnenminister einmal im Jahr die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) vorstellt, lässt sich an den Zahlen ablesen, wie statistisch belastbar unser Sicherheitsgefühl ist. Vorfälle wie etwa die Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Köln, die Vergewaltigung einer Camperin in Bonn oder der Mord an einer Freiburger Studentin haben dazu beigetragen, dass sich viele von Zuwanderern bedroht fühlen.

In der Kriminalstatistik sticht nun in diesem Jahr eine Zahl hervor, die dieses Unsicherheitsgefühl offensichtlich bestätigt. Der Statistik zufolge hat die Polizei im vergangenen Jahr deutlich mehr tatverdächtige Zuwanderer registriert als im Vorjahr. Die Verdachtsfälle sind um mehr als 50 Prozent auf knapp 175 000 gestiegen - eine beunruhigende Entwicklung. "Da ist nichts zu beschönigen", sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière bei der Vorstellung der Statistik.

Doch wer sich die Zahlen der Kriminalstatistik genauer anschaut, stellt fest: Die Materie ist komplex. Kriminologe Dirk Baier beschäftigt sich als Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Universität Zürich mit den Ursachen und Auswirkungen von Kriminalität, hat zu Einbrüchen in deutschen Großstädten geforscht und befasst sich intensiv mit von Migranten verübten Straftaten. Für ihn ist die aktuelle Entwicklung nicht überraschend, doch warnt er vor voreiligen Schlüssen und erklärt, warum die Statistik an manchen Stellen oft fehlinterpretiert wird.

Der Einfluss der Migrationsbewegungen Ende 2015: Die Kriminalstatistik vermittelt den Eindruck, dass mit den Flüchtlingen auch besonders viele Kriminelle nach Deutschland gekommen sind. Ist das so richtig?

Dirk Baier: "Mit solchen Aussagen muss man vorsichtig sein. Wer nur die nackten Zahlen sieht, stellt fest, dass die Kriminalität in Deutschland gestiegen ist. Dass auch der Anteil der Zuwanderer an der Gesamtzahl der Tatverdächtigen größer geworden ist, ist nicht überraschend. Diese Entwicklung deuteten schon die jüngsten Kriminalstatistiken aus den einzelnen Bundesländern an.

Aber man muss darauf hinweisen, dass von Ende 2015 bis Anfang 2016 ein großer Flüchtlingsstrom nach Deutschland gekommen ist. Da ist es ganz normal, dass wenn mehr Menschen in ein bestimmtes Land kommen, auch die absolute Zahl beispielsweise der Gewalttaten steigt. Die Zahl zeigt, dass die Kriminalität in Deutschland zugenommen hat und nicht, dass Flüchtlinge krimineller sind als Deutsche. Die meisten verhalten sich gesetzeskonform."

Die Delinquentenrate unter Flüchtlingen: Männer, Frauen und Kinder sind nach Deutschland geflüchtet. Doch natürlich ist nicht jeder von ihnen ein potentieller Straftäter. Wer genauer in die Kriminalstatistik schaut, erkennt, dass nur ein Teil einer bestimmten Personengruppe eher straffällig wird als andere.

Dirk Baier: "Unsere Studien haben gezeigt, dass vor allem die jungen Männer im Alter von 14 bis 30 Jahren mit Kriminalität auffallen. Unter Deutschen gehört zu dieser Altersgruppe allerdings nur jeder Zehnte, unter Flüchtlingen jeder Dritte.

Generell gilt: In Bezug auf Ladendiebstähle unterscheiden sich Deutsche und Migranten kaum voneinander, bei Gewaltdelikten ist es anders anders: Personen mit Migrationshintergrund, vor allem mit türkischen oder arabischen Wurzeln, treten hier deutlich öfter als Täter in Erscheinung.

Außerdem kann man erkennen, dass unter den Zuwanderern besonders Marokkaner und Algerier auffällig werden. Sie haben kaum Aussichten auf einen positiven Asylbescheid. Bis zur Rückführung in ihre Heimatländer dauert es oftmals lange. Ihre schlechte Perspektive in Deutschland ist entscheidend für ihre Anfälligkeit, kriminell zu werden. Hier müsste man politische Lösungen finden, um das Problem zu beheben. Entweder schiebt man sie schneller ab oder bietet diesen Menschen eine Perspektive, indem man sie in Arbeit bringt."

"Die Bevölkerung akzeptiert bestimmte Normübertretungen nicht mehr"

Der Einfluss von Anzeigeverhalten und Polizeiarbeit: Nicht nur die Flüchtlingswelle hat die Kriminalstatistik beeinflusst. Kriminologe Baier macht drei Faktoren aus, die die Zahlen in die eine oder andere Richtung verschieben können.

Dirk Baier: "Es gibt drei Faktoren, die die Kriminalstatistik beeinflussen. Zum einen ist das natürlich das kriminelle Verhalten der Bevölkerung. Begehen die Menschen mehr oder weniger Straftaten, dann wirkt sich dies entsprechend auf die Statistik aus.

Der zweite Faktor ist die Anzeigebereitschaft. Da haben wir Hinweise, dass diese in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Die Bevölkerung akzeptiert bestimmte Normübertretungen nicht mehr und meldet sie dann bei der Polizei. Wenn früher etwa ein Gartenzaun beschädigt wurde, hat man ihn repariert und die Sache war damit erledigt. Heute zeigt man diese Sachbeschädigung bei der Polizei an.

Der dritte Faktor ist die Arbeit der Polizei selbst. Delikte wie Schwarzfahren, Ladendiebstahl oder Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz werden vor allem durch das Engagement der Ermittler aufgedeckt. Wenn die Polizei verstärkt bei Menschenansammlungen etwa an Bahnhöfen kontrolliert, hat so auch Fahndungserfolge. Das beeinflusst dann wieder die Kriminalstatistik."

Verdächtige sind nicht gleich Täter: In der Kriminalstatistik wird die Zahl der Tatverdächtigen aufgeführt, nicht die der verurteilten Straftäter. Das lässt an manchen Stellen falsche Interpretationen zu.

Dirk Baier: "Wer fremd aussieht, wird auch häufiger bei der Polizei angezeigt. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass die Bereitschaft doppelt so hoch ist, Migranten anzuzeigen als Deutsche. Das treibt die absolute Zahl der Tatverdächtigen in die Höhe.

Das größte Missverständnis an der Kriminalstatistik ist, dass sie nicht die Kriminalität zeigt, sondern nur die Fälle, die die Polizei bearbeitet. Wenn also mehr Straftaten angezeigt werden, muss gar nicht die Kriminalität in der Gesellschaft gestiegen sein, es sieht aber so aus.

Die langfristige Entwicklung der Gewaltkriminalität: Aus der Kriminalstatistik zu lesen, dass Flüchtlinge für die gestiegene Zahl an Straftaten in Deutschland verantwortlich sind, ist ebenfalls ein Missverständnis. Vielmehr zeigt die Statistik einen Trend, auf den die Politik nun reagieren kann, um das Sicherheitsgefühl wieder zu verbessern.

Dirk Baier: "Die Kriminalstatistik ist vor allem gut, um langfristige Entwicklungen aufzuzeigen. Erst im Mehrjahresvergleich kann man diese erkennen. Zwar hat die Anzahl der Gewaltdelikte im vergangenen Jahr zugenommen, doch vergleicht man sie mit den Zahlen der vergangenen 20 Jahre, sieht man schnell, dass es sich nicht um einen historischen Höchststand wie in den 90er-Jahren handelt. Damals hatten wir in Deutschland einen erhöhten Zuzug aus den Balkan- und ehemaligen Ostblockländern. Das Problem wurde erkannt, und man hat sich intensiv um diese Gruppe gekümmert. Seit 2007 sind die Gewaltdelikte gesunken.

Jetzt gibt es einen kleinen Anstieg, der ebenfalls gut zu erklären ist. Wenn man sich nun auch intensiv um diese Personengruppe kümmert und Präventionsarbeit leistet, wird die Zahl der Gewaltdelikte auch wieder zurückgehen. Es gibt keinen Grund, panisch zu werden."

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