Das Leben imitiert die Kunst, heißt es in einem philosophischen Aufsatz von Oscar Wilde aus dem Jahr 1889. Was ohnehin schon kompliziert klingt, ist im Fall von Liz Truss noch etwas komplexer gelagert. Die Frage, ob sich die Kunst an der Realität orientiert oder umgekehrt, entzündet sich im Falle der neuen britischen Premierministerin an einem roten Kleid.
Während ihrer Rede beim Tory-Parteitag in Birmingham fiel auf, dass Truss ein Kleid trug, das dem einer fiktiven Diktatorin aus einer BBC-Serie ähnlich ist: Emma Thompson spielte 2019 in "Years and Years" eine Geschäftsfrau namens Vivienne Rook, die als Gründerin einer rechtspopulistischen Partei zur Premierministerin gewählt wird. Rook wird rasch sehr autokratisch, lässt politische Gegner verhaften, schafft die Pressefreiheit ab und richtet KZ-ähnliche Lager für sozial Schwache ein.
In der Szene, in der sie die Errichtung dieser Lager beschließt, trägt Thompsons Figur das Modell "Forever" der Marke Karen Millen. Es besteht aus recyceltem Polyester, hat einen strukturierten V-Ausschnitt und gepolsterte Schulternähte und ist in der Realität in 20 verschiedenen Varianten sowie acht Farben erhältlich. Truss trug in Birmingham exakt den gleichen "Forever"-Schnitt und fast genau dieselbe Farbe wie Thompson. Wollte sie also ein heimliches Zeichen aussenden, dass die Tage der britischen Demokratie gezählt seien?
Das zu vermuten, hieße, die semiotischen Fähigkeiten dieser Politikerin zu überschätzen. Tatsächlich hatte Truss, damals Ministerin für internationalen Handel unter Boris Johnson, schon vor der Veröffentlichung von "Years and Years" dieses Kleid getragen. Nicht ausgeschlossen, dass Emma Thompsons Kostümbildnerin sich daran ein Beispiel nahm, nicht umgekehrt.
Auch Kate Middleton und Liz Hurley schätzen übrigens das Modell "Forever". Es ist, ganz wertfrei, ein typischer "Power-Dress". Ob sie die Macht, die sie damit signalisiert, im Vivienne-Rook-Stil einsetzen wird, hängt aber wohl zuallerletzt von Liz Truss' Kleidungsstil ab.