Süddeutsche Zeitung

Stilkritik:Die brutalste aller Niederlagen

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Eine 21-jährige Kolumbianerin wird zur Miss Universe gekürt - aus Versehen. Warum sich die Videos noch schlimmer anfühlen als die Wirklichkeit.

Von Michael Neudecker

1:0, das Finale nähert sich dem Ende, draußen liegen sich die Spieler in den Armen, Sieger-T-Shirts werden verteilt, die reguläre Spielzeit ist ja abgelaufen, immer noch 1:0, und dann: ein Pfiff. Schlusspfiff? Nein. Ecke für den Gegner, der Ball fliegt, fliegt weg, kommt zurück, hüpft, taumelt, alle starren - Tor. 1:1, aber weiter, immer weiter, Verlängerung jetzt eben. Oder? Nein. Noch mal Ecke für den Gegner. Vierte Minute der Nachspielzeit. Der Ball fliegt - 2:1 für die anderen. Aus. Vorbei.

Die brutalste aller Niederlagen, 1:2 nach 94 Minuten trotz 1:0 nach 90 Minuten, es gab sie, das ist bekannt: FC Bayern gegen Manchester United, Champions-League-Finale 1999. Bayern-Fans kriegen noch heute Atembeschwerden, wenn sie nur daran denken, und das ist jetzt eine wunderbare Überleitung zu Ariadna Gutiérrez. Gutiérrez ist 21 Jahre alt und aus Kolumbien, und sie kann jetzt so gut mitreden wie die 99er-Bayern, wenn es um zweite Plätze geht.

Sie hat am Sonntag ihr persönliches Manchester erlebt, millionenfach angeklickt am Montag. Videos sind manchmal brutaler als die Wirklichkeit: Man kann sie auf Standbild stellen, vor- und zurückspulen, in Zeitlupe oder Echtzeit, dann kann man alles noch genauer sehen. Den Gesichtsausdruck von Gutiérrez zum Beispiel, als der Moderator sagt, nein, sorry, ganz blöder Fehler, er habe zwar gerade Miss Kolumbien zur Miss Universe gekürt, aber das sei ein Versehen, er habe sagen wollen: Miss Kolumbien sei Zweite. Die Siegerin sei Pia Alonzo Wurtzbach, die in Stuttgart geborene Miss Philippinen . Krone runter, sorry, echt.

Man könnte jetzt vieles zum Wert zweiter Plätze sagen, man könnte das olympische Motto "Dabeisein ist alles" bemühen, aber - pfff. Wer Zweiter wird, der fühlt sich wie der erste Verlierer, und man kann es dem Zweiten nicht übel nehmen, wenn er mit seiner Medaille das tut, was die 99er-Bayern taten: sie umgehend in den Müll werfen.

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Quelle:
SZ vom 22.12.2015
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