Sportmedizin:Professor Unrast

Sportmedizin: „Ist ja keine Arbeit, ist ja Hobby“: Wildor Hollmann 1977 an der Deutschen Sporthochschule in Köln.

„Ist ja keine Arbeit, ist ja Hobby“: Wildor Hollmann 1977 an der Deutschen Sporthochschule in Köln.

(Foto: imago)

Ein volles Leben: Wildor Hollmann, Instanz der Sportmedizin, ist 92 Jahre alt und füllt in seinem 140. Semester noch immer die Hörsäle. Eine neue Folge unserer Ü-90-Serie.

Von Friederike Zoe Grasshoff

Er ist zu früh. Hollmann schaut auf die Uhr, 13.56 Uhr. Auf dem Gang stehen sie schon und warten, alles wie immer. Er geht schneller. Eine Hand von links, eine Hand von rechts, links schütteln, rechts schütteln, dann ist er da. Zwanzig Menschen in Sporthosen laufen hinter ihm her, dreißig, kein Platz mehr frei, fünfzig, sie setzen sich auf den Boden, stehen bis raus auf den Gang. Hollmann blickt zur Tür, 13.57 Uhr. "Fangen wir ruhig an, dann haben wir mehr Zeit."

Was sind schon 90 Minuten? Er will so viel sagen, so viel erklären - Weltall, Bakterien, Neurotransmitter, Neandertaler, Affen, Alzheimer. Die Entstehung des Lebens und das Ende des Lebens. 90 Minuten sind nichts. 92 Jahre auch?

Ein Mittwoch im Semester, es ist warm in dem kleinen Seminarraum. Wildor Hollmann steckt in einem grauen Anzug, sein Seitenscheitel sieht aus wie mit dem Lineal gezogen. Er drückt auf einer Fernbedienung herum, der Beamer strahlt Schädel und Gehirne an die Wand. Hollmann redet schnell. Kein Mmh, kein Äh, jeder Satz fliegt zum nächsten, Satz an Satz an Satz. Ein Menschenaffe taucht hinter ihm auf, "wie meine Großmutter, leicht verunglückt". Er lacht, alle lachen.

Willkommen in der Show, willkommen bei Wildor Hollmann: Kardiologe, Märchenonkel, Professor der Sporthochschule Köln, nicht ganz unumstrittene Figur, 92 und im 140. Semester. Zu seinen Füßen sitzen und liegen sie auf dem Teppich, junge Menschen. Legginsbeine, Sporttaschen. Hollmann hat kaum noch Platz, rückt näher an die Wand.

Er könnte 70 sein, so aufrecht steht er da

"Es wird mit größter Wahrscheinlichkeit der Zeitpunkt kommen, wo die mittlere Lebenserwartung des Menschen 130 Jahren betragen wird." Er macht einen Schritt zur Seite und steht auf einem Fuß. "Tut mir leid, irgendjemandem stehe ich immer im Weg." Das Mädchen lacht. Alle lachen. "130 Jahre", sagt er noch mal. Es klingt nach etwas Großem, nach Drohnenhimmel, nach nie wieder Krebs. Es klingt nach einem Mann, der nicht fertig ist mit der Welt.

Im Januar ist er 92 geworden, in seinen Augen sieht man die Jahre. Aber der Körper, die Haltung. Er könnte 70 sein, so aufrecht steht er da. Später, als alle geklatscht und geklopft haben, geht er über verglaste Gänge, über den Campus. Er hakt sich bei der Doktorandin unter, das Knie. Er zeigt auf einen grauen Turm, "mein Institut". Sein Institut, sein Leben.

Leben, für Wildor Hollmann war das immer die Arbeit. Vor fast 60 Jahren gründet er an der Sporthochschule Köln das Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin. Früh kann er nachweisen, dass sich Bewegung positiv auf die Heilung von Herzkranken auswirkt; der Einfluss von Sport auf Gesundheit und Leistungsfähigkeit wird sein Lebensthema. Wer sich bewegt, lebt länger - heute ein ganz normales Dogma der Bio- und Yogagesellschaft, damals nicht.

Hollmann redet gerne über damals. Er sitzt in seinem Büro. Ein Tisch, ein Computer, ein Regal, sonst nichts. Er ist früh aufgestanden heute, hat ein paar Stunden gearbeitet, dann rein nach Köln. Er sitzt da wie angeknipst, er will reden. 92 Jahre sind 92 Jahre. Die Doktorandin stellt ein Glas Wasser hin, "danke, Veronika", und schon ist er weit weg, in den Fünfzigern.

Was war mit Sepp Herberger?

1958, er gründet das Institut, "sonst säße ich jetzt nicht hier". '59, Hochzeit mit der Sommerballkönigin. Sprung - '48, Währungsreform, vorher: ausgemergelte Menschen, kurze Zeit später: satte Menschen, Wohlstand, Herzinfarkte. Hollmanns Stunde schlägt. Sprung. Die späten Fünfziger, Telefonate mit dem Ministerpräsidenten. "Bald ist die gesamte politische Prominenz gekommen." Minister, die Angst um ihr Herz haben. Und "Sepp" ... .

.. irgendwo in diesen Kopf muss doch eine Festplatte eingebaut sein, ein Terabyte mit Titeln, ein Terabyte Legenden. Gut, was war mit Sepp Herberger? Als der Bundestrainer ihn also fragt, ob er nicht Arzt der Fußball-Nationalmannschaft werden will, da antwortet er: "Nein. Da habe ich keine Zeit für." Hollmann wird die Zeit finden, 20 Jahre lang. Zu den Spielen geht er nicht, zu viel Arbeit, die Spieler kommen zu ihm. Hollmann lacht, nein, er gluckst, wenn er das erzählt. "Die Dinge fielen einem einfach so in den Schoß." So geht das immer weiter. Amt um Amt, Titel um Titel.

Wildor Hollmann

Hollmann heute.

(Foto: dpa)

Er wird Arzt der Golf-Nationalmannschaft, der Hockey-Nationalmannschaft. Wird Präsident des Weltverbandes für Sportmedizin, nach vier Jahren wäre Schluss gewesen, "dann haben sie eine Lex Hollmann gemacht", er darf noch mal vier. Kriegt das große Verdienstkreuz, den Präsidentenorden von Ghana, die Ehrenplakette der Stadt Köln. Er arbeitet, er reist. Japan, Amazonas, Südafrika, seine Kinder sieht er selten. Später wird er sagen, dass er nie ein Vater war. Dass er heute alles genauso machen würde wie früher. Zeit ist Arbeit. Hollmann wird Prorektor der Sporthochschule, Rektor. 800 Publikationen, 241 Doktoranden. Es läuft gut. Viele Jahre geht das so.

2013 wird die Studie "Doping in Deutschland" veröffentlicht, auch Hollmanns Name fällt darin: Ihm wird vorgeworfen, über Jahre an der systematischen Erforschung von Dopingmitteln für den deutschen Spitzensport beteiligt gewesen zu sein. Hollmann nennt die Vorwürfe zu jenem Zeitpunkt im Handelsblatt "absoluten Unsinn". Er bestätigt, die Retransfusion von Eigenblut an 17 Sportstudenten erforscht zu haben, von Doping habe aber kein Mensch "je auch nur ein Wort geredet". An diesem Mittwoch im Semester wiederholt er das. "Ich bin immer gegen Doping gewesen. Ich habe nie einen Athleten gedopt." Kurze Stille, weiter im Text.

Hollmann kann nicht glauben, dass er noch lebt

Still war es nie in diesem vollen Leben. Ein Kriegskind war er, 1943 kommt er zur Luftwaffe, da ist er 17. "Ich habe das mal zusammengerechnet", sagt Hollmann, "30 Mal dachte ich: So also sieht dein Ende aus." Er überlebt, jedes Mal. Zwei Jahre ist er in Kriegsgefangenschaft, 1947 kommt er ins kaputte Köln, schreibt sich für Medizin ein. Er kann nicht glauben, dass er noch lebt. Dass er seine Beine hat, seine Arme.

Hollmann holt ein Taschentuch raus und tupft die Nase, W. H. hat jemand darauf gestickt.

Er steckt das Tuch ein. Er muss gleich los, er will noch arbeiten. Wie jeden Abend, jede Nacht. "Ist ja keine Arbeit, ist ja Hobby." Manche seiner Sätzen klingen, als hätte er sie schon sehr oft gesagt. Und Hollmann ist einer, der lieber sagt, was gut ist als was schlecht. "Wissen Sie: Ich habe immer gute Stimmung, ich bin quietschvergnügt", man glaubt ihm das. "Aber es ist kein Mensch mehr am Leben."

Die 44 Tanzschüler aus dem Gymnasium in Menden, "von denen lebt niemand mehr, alle tot". Seine Frau - vor fünf Jahren gestorben. "Man hat niemanden mehr."

Hollmann hat die Arbeit. Den Sport, das Tanzen, zweimal die Woche Fitnessstudio. Seine Vorlesung, die Sporthochschule. Seit 1990 ist er im Ruhestand, egal, er zieht durch. Solange es geht.

Hat er Angst vor diesem Tod, der jetzt immer da ist, der ihm die Frau genommen hat? Die naturwissenschaftliche Antwort: "Der Gedanke lässt mich völlig kalt", kann er nicht beeinflussen. Die andere Antwort: "Wenn ich heute weg bin, wird das keinen wundern. Aber ich möchte noch so viel erleben wie möglich." Nein, nein, nicht verreisen, er war ja überall. Forschen, über Quantenphysik und menschliches Bewusstsein. Seine Doktoranden. "Aber wenn die fertig werden, bin ich nicht mehr da."

92 Jahre sind nichts. Und sehr viel.

In jedem Text über Wildor Hollmann steht ein Satz, er soll ihn in den Sechzigern gesagt haben: "Durch sportliches Training kann man 20 Jahre lang 40 Jahre alt bleiben." Er hat gelebt wie ein Jurist, der sich an jedes Gesetz hält. Hat nie geraucht, wenig getrunken, Tennis, Laufen. Hat seinen Satz gelebt. Jetzt hat er einen neuen: "Ich fühl mich so, wie ich mich vor 40, 50 Jahren gefühlt habe." Womit er 52 wäre. Oder 42. Dann muss er los. Es gibt viel zu tun.

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