Spitzengastronomie:Der Meister der 25 Gänge

Spitzengastronomie: Dylan Watson-Brawn, der "Koch des Jahres", mit dem früheren Sommelier Christoph Geyler und Co-Chef Spencer Christenson (von links).

Dylan Watson-Brawn, der "Koch des Jahres", mit dem früheren Sommelier Christoph Geyler und Co-Chef Spencer Christenson (von links).

(Foto: Staffan Sundstrøm)

Der Gault & Millau kürt den Berliner Kanadier Dylan Watson-Brawn zum "Koch des Jahres", der vor ein paar Jahren seine WG-Küche in sein erstes Lokal umfunktionierte. Eine ungewöhnliche Wahl für einen Traditions-Gastroführer - und nicht die einzige Überraschung.

Von Marten Rolff

Die Pandemiejahre haben die Gastronomie umgekrempelt wie kaum ein Ereignis zuvor. Und angesichts der Lockdowns, der vielen Pleiten, Neuerfindungen und, ja, auch unerwarteten Erfolgen ist es nur natürlich, dass sich auch die Restaurantkritik verändert.

Für den Gault & Millau, neben dem Guide Michelin der zweite prägende Restaurantführer, wären die Veränderungen selbst ohne Corona groß gewesen. Es gab drei Verlagswechsel binnen kurzer Zeit, auch das erklärt, warum die deutsche Ausgabe des Führers, der mit dem "Koch des Jahres" den wichtigsten Titel der Branche vergibt, mit mehrmonatiger Verspätung erscheint. Aber schuld waren natürlich auch die angesichts der Infektionswellen "extremen Bedingungen", die die Arbeit der Tester über viele Wochen fast unmöglich machten, wie Chefredakteur Christoph Wirtz sagt. An diesem Montagmittag nun wurde die Ausgabe für 2022 in Berlin präsentiert.

Insgesamt fiel das Urteil über die deutsche Spitzenküche sehr wohlwollend aus: "Vielfalt und Qualität nehmen ungeachtet aller Krisen zu." Der Gault & Millau selbst, dazu gleich mehr, nahm die Krisen zum Anlass, sich von größeren Teilen seines alten Konzepts zu verabschieden.

Supper Club in der WG-Küche

Über die Auszeichnung "Koch des Jahres" darf sich Dylan Watson-Brawn freuen, der im Berliner Stadtteil Wedding das Restaurant "Ernst" führt - eine spannende, weil für einen Traditionsgastroführer ungewöhnliche Wahl. Als der Kanadier mit Anfang 20 nach Berlin kam, war er der erste nicht-japanische Koch, der in einem japanischen Drei-Sterne-Restaurant eine Lehre absolviert hatte. Dementsprechend ist seine Arbeit so eng an der Produktqualität ausgerichtet wie die weniger anderer Köche. Wenn Watson-Brawn mit seinen Produzenten über Landwirtschaft sprach, ging es schon früh um Mikrosaisonalität, Bewässerungsdosierung, Erntezeitpunkte oder die Zusammensetzung von Entenfutter.

Einen ersten kleinen Hype löste der Kanadier aus, als er, gemeinsam mit seinem Herdpartner Spencer Christenson, damals noch für eine Art Supper Club in seiner Weddinger WG-Küche kochte und plötzlich viele Gäste aus den USA anreisten, um dort zu essen. Etwa perfekt gereifte Pfirsiche, die der Koch aus Sizilien mitgebracht hatte, ohne Kühlung, damit der Geschmack nicht leidet.

Spitzengastronomie: In Dylan Watson-Brawns Restaurant "Ernst" im Berliner Wedding haben nur acht Gäste Platz. Auf dem Bild ist das Lokal vor der Renovierung zu sehen.

In Dylan Watson-Brawns Restaurant "Ernst" im Berliner Wedding haben nur acht Gäste Platz. Auf dem Bild ist das Lokal vor der Renovierung zu sehen.

(Foto: Staffan Sundstrøm)

Die Pandemie nutzte der 28-Jährige Watson-Brawn nicht nur, um ein Zweitlokal zu eröffnen. Zugleich renovierte er das "Ernst", schärfte das Konzept und verkleinerte die Zahl der Gäste von zwölf auf acht. Gegessen werden 20 bis 25 Klein- und Kleinstgänge, die die Küche hinterm Gemeinschaftstresen für alle Gäste zur selben Zeit à la minute vorbereitet. Das Urteil der Tester in den Worten von Christoph Wirtz: "Die Vorschusslorbeeren sind verblüht und der Hype ist verweht. Was geblieben ist, hat extreme Substanz, Eigenständigkeit, konzeptionelle Reife und technische Souveränität."

Keine Punkte mehr, dafür rote Hauben

Beim Gault & Millau selbst sieht die "konzeptionelle Reife" so aus, dass die Tester künftig darauf verzichten, Restaurants mit Punkten zu bewerten. "Schulnoten zu Kulturleistungen passen nicht mehr in die heutige Zeit", glaubt Wirtz. Gemeint ist damit auch, dass die Krise mit ihren ständig veränderten Rahmenbedingungen gezeigt hat, dass starre, "Objektivität und Trennschärfe vorgaukelnde" Punktevergaben ihre Grenzen haben. Man darf das auch als Zeichen der Demut werten. Eine Restaurantkritik, die zuletzt etwas hilflos an alten Konzepten festhielt, passt sich endlich besser an.

Ein anderes Thema ist, dass das alte, an französischen Schulnoten (1-20) ausgerichtete Punktesystem selbst für Eingeweihte schwer verständlich war. Wer hätte erklären mögen, warum es manchmal halbe Punkte gab, was genau der Unterschied zwischen 17 und 18 Punkten ist oder warum die Höchstnote (so gut wie) nie vergeben wurde?

An seiner zweiten Bewertungskategorie - der Vergabe von einer bis fünf Hauben - hält der Gault & Millau dagegen fest, wobei Restaurants, die in ihrer Kategorie durch besondere Leistungen hervorstechen, künftig mit rot umrandeten Hauben hervorgehoben werden. Damit ergibt sich ein System mit zehn Stufen.

Stern verloren, rote Haube gewonnen

Zur kulinarischen Weltspitze gehörig (fünf rote Hauben) sehen die Tester vor allem drei Restaurants, das "Victor's Fine Dining" in Perl (Saarland, Christian Bau), das "Waldhotel Sonnora" in Dreis (Rheinland-Pfalz, Clemens Rambichler) und das "Vendôme" in Bergisch Gladbach (Nordrhein-Westfalen, Joachim Wissler), dem der Guide Michelin im März den dritten Stern aberkannt hatte. Neu im Kreis der "weltbesten" Restaurants mit fünf (normalen) Hauben sind das Hamburger "Haerlin" (Christoph Rüffer) sowie das "Schanz" in Piesport (Rheinland-Pfalz, Thomas Schanz). In diese Spitzengruppe zählen die Tester auch das Wolfsburger "Aqua" (Sven Elverfeld), die "Schwarzwaldstube" in Baiersbronn (Torsten Michel) sowie das "Tim Raue" in Berlin (Tim Raue).

Als "Aufsteiger des Jahres" zeichnete der Gault & Millau Viktor Gerhardinger vom pflanzenbasierten Restaurant "Tian" in München aus, die "Neuentdeckung" ist der Oberpfälzer Koch Adrian Kuhlemann (Restaurant Kuhlemann, Neustadt an der Waldnaab). Über den Titel Sommelier des Jahres darf sich Christophe Meyer ("Le Pavillon", Bad Peterstal-Griesbach) freuen, beste Pâtissière ist Larissa Metz ("Favorite Restaurant", Mainz), "Gastronom des Jahres" Hermann Bareiss ("Restaurant Bareiss", Baiersbronn).

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