Sommerloch 1998:Bonbons nur für Jungs

Im Internet kann man sensationell teure Pfefferminzbonbons bestellen. Außerdem wird im Sommer 1998 eine Praktikantin sehr berühmt - und Millionen Männer bekommen Hoffnung.

Sarina Märschel

Ein Thema überragt im Sommer 1998 alles. Nur wenige Smalltalk-Minuten bleiben übrig für die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich, die nahende Bundestagswahl, die neuen Spekulationen über die Todesursache Napoleons und das enthüpfte Känguruh Manni. Im Mittelpunkt des Sommers 1998 steht eine kleine, blaue Pille, ein Gegenstand, der Millionen Männern Hoffnung macht: Viagra.

Sommerloch 1998: Nur für Jungs: Im Sommer 1998 warteten in Deutschland alle auf die Markteinführung von Viagra. Naja, fast alle.

Nur für Jungs: Im Sommer 1998 warteten in Deutschland alle auf die Markteinführung von Viagra. Naja, fast alle.

(Foto: Foto: AFP)

Viagra kommt zunächst in den USA auf den Markt. Obwohl die Zulassung in Europa noch in ferner Zukunft liegt, fangen in Deutschland Ärzte, Krankenkassen und rund 80 Millionen Deutsche an, darüber zu diskutieren, ob es Potenzpillen auf Kassenrezept geben sollte.

Kassenvertreter sind der Meinung, dass dies die gesetzlichen Versicherungen vollends ruinieren würde. Sie diskutieren und streiten mit Patienten und Gerichten, und viele Monate später wird die Behandlung einer erektilen Dysfunktion dann doch noch zur Kassenleistung.

Viagra setzt auch andere Kräfte frei

Ganz ohne Rezept muss es aber von Anfang an nicht gehen: Ein französischer Gastwirt setzt ein Viagra-Menü auf die Speisekarte seines Restaurants. Die Nachricht, dass in den USA Dutzende Menschen nach der Einnahme von Viagra verstarben, dämpft den Appetit bei einigen dann aber wohl gewaltig.

Neben anderen Kräften setzt das neue Potenzmittel übrigens auch kriminelle Energien frei: Zwei Männer aus Hannover werden verklagt, weil sie im Internet blau gefärbte Pfefferminz-Bonbons als Viagra verkauften - vier Stück für 99 Mark.

Die Diskussionen der Krankenkassenvertreter werden öder und öder. Zwischen Kiel und München gilt das Prinzip tote Hose. In Italien regiert ebenfalls die Langeweile, dort fängt ein Fernmeldetechniker aus Verzweiflung an, Leonardo da Vincis "Das Abendmahl" nachzusticken - mit dreieinhalb Millionen Kreuzstichen auf zwölf Quadratmetern.

Helmut Kohl - bereits 16 Jahre im Amt und Kanzlerkandidat zum fünften Mal in Folge - will sich nicht festlegen, wie lange er bei einem Wahlsieg im Amt bleiben wird. Er lässt sich von denen, die ihn bald in Rente schicken wollen, nicht beirren und macht fleißig Wahlkampf in seinem schönen Deutschland. Es ist seine Abschiedstournee, wie er später feststellen muss - und wie es die SPD schon im Sommer boshaft auf ihren Wahlplakaten verkündet.

Ab an die Heuschrecken-Front

Spannenderes gibt es da aus China zu melden: Dort hüpfen den Sommer über Heuschrecken in Hülle und Fülle übers Grasland. Um die Schlemmerreise der Insekten zu unterbrechen, bildet der chinesische Staat 10.000 Hühner aus. Jedes von ihnen bekommt nach dem Schlüpfen 60 Tage Training. Nach der Nahkampfausbildung werden sie an die Heuschrecken-Front geschickt.

Noch viel spannender geht es in den USA zu: Dort packt Monica Lewinsky, Ex-Praktikantin im Weißen Haus, aus. Und Bill Clinton, damals Präsident der USA, packt beinahe ein. Im August räumt Clinton in einer Fernsehansprache die "unangemessene Beziehung" zur Ex-Praktikantin ein. Die Farbe blau spielt auch in der Lewinksy-Affaire eine zentrale Rolle: Es geht um eine blau-gold-gemusterte Krawatte, die Bill Clinton von Monica Lewinsky geschenkt bekommen haben soll, es geht um ein blaues Cocktail-Kleid mit unappetitlichen Flecken. Von kleinen, blauen Pillen aber sagt niemand etwas.

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