Sommerloch 1968:Als Kühlschränke das Denken einfroren

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Studenten in aller Welt gehen auf die Straße, Bundeskanzler Kiesinger wird zum Lebensretter. Und in der DDR verwandeln sich Lippenstifte zu Maulkörben.

Johannes Kuhn

Die "Achtundsechziger" - hätten sie 1968 geahnt, dass sie einmal in jedem deutschen Lexikon stehen würden? Von dem Attentat auf Rudi Dutschke politisiert, durch die Notstandsgesetze verärgert, nutzen junge Menschen den Sommer 1968 zum Diskutieren und Protestieren.

Auf der "documenta 4" ist Andy Warhols Bilderzyklus "Marilyn" zu sehen: Obwohl bereits 1962 entstanden, fasziniert er noch sechs Jahre später das Publikum. (Foto: Foto: AP)

Letzteres zum Beispiel gegen die "documenta 4" in Kassel. Bereits die Pressekonferenz der Eröffnungsveranstaltung wird massiv gestört - unter anderem durch Künstler wie Wolf Vostell und Jörg Immendorff. Die Forderung: Mehr politische Aussagen in der Kunst. Begriffe wie Fluxus, Happening oder Aktionskunst schwirren durch den Raum - doch auf einen gemeinsamen Nenner können sich Jungkünstler und Establishment schließlich doch einigen: Andy Warhols "Marilyn" verdichtet den Zeitgeist zu einem zehnteiligen, grellen Bilderreigen - auch wenn das Werk bereits aus dem Jahr 1962 stammt.

Auch in den USA folgt dem Liebessommer von 1967 der Sommer der Proteste: Mobilisiert durch die Erschießung von Martin Luther King und den Vietnamkrieg, finden sich Hunderttausende Studenten zu Protestmärschen zusammen. In Tschechien gehen die Menschen für ihre Freiheit auf die Straße, doch als am 21. August 1968 Panzer auf dem Prager Wenzelsplatz auffahren, wird der Prager Frühling blutig beendet.

Es sind Moment der Rebellion, der Unruhen und der Provokation. Dass sich die Welt in diesem Sommer besonders schnell verändert, bemerkt auch der Vatikan und stellt sich konsequent gegen den Zeitgeist: Papst Paul VI. erlässt die Enzyklika "Humanae vitae", in der festgelegt wird, dass Geschlechtsverkehr und "gottgewollte Fortpflanzung" untrennbar miteinander verknüpft sind. Der Erfolg des Verhütungsverbots hält sich in diesem aufgeheizten Sommer allerdings in Grenzen.

Ein heißes Pflaster für Hippies ist 1968 Dubrovnik - dort erleben junge Hippies nach dem "Sommer der Liebe" den "Sommer der Flucht": In der jugoslawischen Stadt haben sich junge Männer zu Friseurbanden zusammengeschlossen, die den langmähnigen Hippies nach ihrer Haarpracht trachten.

Momente der Provokation gibt es in diesem Sommer auch in der DDR, wenn auch auf vergleichsweise harmlose Art. So wirft die Staatsführung ihren Bürgern vor, was mancher Achtundsechziger später einmal seinen Kindern vorhalten wird: Konsumsucht. Die SED-Spitze beschließt deshalb eine "Aktion gegen den Drang nach Besitz". Ein Leitartikel im regimetreuen Neues Deutschland gibt die Richtung vor: "In der DDR hält man nichts von Kühlschränken, die das selbständidge Denken einfrieren, von Traumhäusern, in denen die Langeweile wohnt, von Lippenstiften, die wie Maulkörbe wirken."

Weit weg von all den Umwälzungen weilt Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) im Urlaub am Bodensee - und schafft es als Lebensretter in die Schlagzeilen. Bei einem Segeltörn entdecken Kiesinger, der CDU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel und ein befreundeter Industrieller ein umgekipptes Segelboot. Kiesinger ("in knallgelbem Ölzeug", wie die SZ berichtet) merkt als Einziger, dass sich in der Luftblase zwischen Boot und Wasser noch ein kleiner Hund befindet. Mit vereinten Kräften drehen die Männer das Boot und retten den Cocker-Spaniel-Rüden eines Erlanger Feriengastes.

Geschichtlich gesehen kommt Kiesingers Heldentat ein Jahr zu früh - im Wahlsommer 1969 entsinnt sich niemand mehr des heroischen Kanzler-Moments: Der CDU-Politiker wird abgewählt und Willy Brandt (SPD) kommt an die Macht.

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