Süddeutsche Zeitung

Sommerloch 1965:Die Geschichte der O.

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Viele Jahre vor Knut trägt sich im Berliner Zoo ein skurriler Freitod zu. Ein Tintenfisch mit dem schönen Namen Ottilie frisst seine eigenen Fangarme und stirbt.

Johannes Honsell

Manchmal gebiert das Sommerloch Sätze von solcher Schönheit und Tragik, dass man sie zur Gänze zitieren muss: "Der Krake Ottilie, der vor einigen Monaten durch das allmähliche Verspeisen seiner Fangarme Aufsehen erregt hatte, ist im Aquarium des Westberliner Zoos verendet."

Stand so in der SZ vom 12. Juli 1965.

Ein toller Satz, und voller Fragen: Warum fraß Ottilie seine eigenen Fangarme? Ist er womöglich an einem Tentakel erstickt? Wenn ein Tier sich selber verspeist, müsste man dann nicht genauer aufpassen, es vielleicht festschnallen? Und schließlich: Wer kommt auf die Idee, einen Kraken Ottilie zu nennen?

Wurde alles nicht beantwortet, hauptsächlich wegen der Obstruktion des Zoos: Todesursache unbekannt, ließ der Tiergarten verlautbaren und teilte noch mit: Dass Ottilie zehn Monate in einem Aquarium überlebt habe, sei ein "beträchtlicher wissenschaftlicher Erfolg".

Wissenschaft ist das eine. Aber hat sich schon mal jemand klargemacht, welch herber Verlust Ottilies Tod für diese Sommerloch-Anthologie bedeutet?

Was hätte der Krake noch für Stoff liefern können! "Charité-Ärzte zufrieden: Ottilie stößt neue Arme nicht ab." "Ottilie nicht mehr depressiv: Die Delphine gaben ihr Halt." "Tag im Meer: Ottilie auf Freigang bei ihrer Mutter."

Tentakel-Stories für die ausgedörrten Nachrichtenspalten, Schlagzeilen satt bis in den September, Material für tausend Kolumnen. Und dann stirbt das Wesen einfach vor der Zeit.

So bleibt nichts, als sich den anderen Themen des Sommers 1965 zuzuwenden, denen leider wenig Heiteres eignete: In Europa ließ Charles de Gaulle alle französischen Stühle in der EWG leer, bis mehr als ein halbes Jahr später auch die letzte seiner Forderungen erfüllt wurde.

Die Amerikaner verlegten riesige Truppenteile nach Vietnam, am Ende des Jahres waren es fast 200.000 Soldaten. Im August wurden die Urteile im Frankfurter Auschwitz-Prozess verkündet.

In Deutschland war Bundestagswahlkampf. Und auf den Autobahnen herrschte Krieg. Das zumindest behaupteten die Zeitungen, die für den "internationalen Bürgerkrieg um jeden Meter Straße" schon mal rhetorisch rüsteten:

"Schreckliche Visionen" über die "mit elementarer Gewalt heranbrechende Hochflut motorisierter Urlaubsreisender" plagten die Autobahnbeamten, "Lawinen aus lackiertem Blech, Chrom und Glas" wälzten sich nach Nord und Süd sowie durch die "Flaschenhälse" der gefährlichen Autobahnkreuze.

Und die bayerische Landesverkehrswacht ersann für die Reisezeit ein Heftchen mit 13 mahnenden "Marterl-Sprüchen" - mit Reimen so schön und tragisch, wie nur das Sommerloch sie gebiert:

"Hier ruhen leider zwei Familien/Sie wollten schnurstracks nach Sizilien/Der Vater schlief am Steuer ein/Der Herr soll ihnen gnädig sein."

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