Gerade erst hat die Dating-App Grindr mit einer neuen Funktion weltweit für Begeisterung gesorgt. Und nun, wenige Tage später, herrscht Entsetzen. Die Geschichte, die von Fluch und Segen privater Informationen im Netz erzählt, begann vergangene Woche.
Die Entwickler der Plattform, die sich als größtes soziales Netzwerk für homo-, bi- und transsexuelle Menschen bezeichnet, kündigten an, ihre Nutzer alle drei bis sechs Monate an einen HIV-Test zu erinnern und auf die nächstgelegene Teststelle in der Umgebung hinzuweisen. Die mehr als drei Millionen täglichen Nutzer müssten dafür der neuen Funktion zustimmen. Das erklärte Ziel, den Umgang mit Aids und dem HI-Virus zu normalisieren, wurde erst einmal von vielen Seiten bejubelt.
Der US-Mediziner Jonathan Mermin etwa sagte der New York Times, es seien "alle effektiven Anstrengungen zum regelmäßigen Testen willkommen", je mehr Organisationen sich bemühten, umso besser. Gerade Männer, "die sich über Apps wie Grindr zum schnellen Sex verabredeten", seien "hochgefährdet, sich zu infizieren". Auch Nutzer begrüßten die Neuerung, wie schon vor einem Jahr, als Grindr die Möglichkeit einführte, den HIV-Status im Profil angeben zu können, um "einen offeneren Dialog zu fördern". Wenn daran nun ein Vorsorgeservice geknüpft sei, so der Tenor: umso besser.
Mark Zuckerberg:Facebook bin ich
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Nun aber gerät das Netzwerk massiv unter Druck, die Euphorie schlägt ins Gegenteil um. Eine Untersuchung der unabhängigen norwegischen Forschungsorganisation Sintef hat einem Bericht der Webseite Buzzfeed zufolge gezeigt, dass Grindr Nutzerdaten weitergegeben haben soll, auch die Informationen zum HIV-Status. James Krellenstein, der in der Vereinigung "Act up New York" für die Rechte von Aidskranken eintritt, nannte das Vorgehen "ungeheuerlich" - und das ist nur eine von zahllosen Stimmen der Entrüstung.
"Kein kommerzieller Zweck" - das ist nur ein Teil der Wahrheit
Grindr-Sicherheitschef Bryce Case lenkte am Montag nach heftiger Kritik ein, dass man in Zukunft keine Daten über eine HIV-Infektion von Nutzern an andere Firmen mehr weitergeben werde, der Prozess werde mit dem nächsten Software-Update eingestellt. Gleichzeitig verteidigte er das Vorgehen laut Buzzfeed: Die Daten seien nicht zu kommerziellen Zwecken geteilt worden, sondern nur, "um die App zu verbessern".
Sintef zufolge landeten sie über verschlüsselten https-Datenverkehr bei zwei App-Betreibern, Localytics und Apptimize, die laut Grindr für die Optimierung der Anwendung bezahlt werden. Das gehöre "zum Standardverfahren bei der Entwicklung von mobilen Apps" und diene keinem kommerziellen Zweck, sagte Case. Allerdings ist das nur ein Teil der Wahrheit.
Auch Informationen wie Nutzernamen, der genaue Aufenthaltsort, der über GPS ermittelt wird, Geschlecht, Alter, Beziehungsstatus und ID des Smartphones werden laut Sintef weitergegeben, teils sogar unverschlüsselt an Unternehmen wie Mopub. Der Dienstleister mit dem Slogan "Powerful app monetization" ist eine Art Handelsplattform für Online-Werbung. Und während man bei Grindr die Weitergabe der HIV-Daten erst wortreich verteidigt und dann doch beenden will, macht das Unternehmen zu alldem keine Angaben.
Kürzlich erst geriet Facebook in die Kritik, als bekannt wurde, dass das Netzwerk 50 Millionen Nutzerprofile verkauft hatte, die offenbar missbraucht wurden, um politische Kampagnenwerbung im US-Wahlkampf auszuspielen. Der Vergleich zu diesem Datenleak sei unfair, sagte Grindr-Sicherheitschef Case. Im einen Fall handle es sich um die Arbeit an der Verbesserung einer App, im anderen Fall um den Versuch, einen "Wahlausgang zu verändern". Dennoch werfen beide Fälle die Frage auf, wie viel der Mensch von sich im Netz preisgeben will, kann, darf und soll. Eine Frage, die mit jedem kleinen und großen Datenskandal drängender wird.
Stiftung Warentest zu Dating-Apps:Ungeschützter Datenverkehr
Wohnort, Alter, sexuelle Vorlieben: Um Partner zu finden, verraten Nutzer Dating-Programmen persönliche Informationen. Doch bei Apps wie Tinder oder Elitepartner gehen sie damit Risiken ein.
Wie drängend, das zeigt ein Blick über die Grenzen Europas. In Ägypten werden die Daten von Apps wie Grindr instrumentalisiert, um schwule Menschen der Prostitution anzuklagen, in Südkorea sollen Soldaten geoutet worden sein. Nach derlei Vorfällen veröffentlichte Grindr Tipps in arabischer Sprache und arbeitet mit der Menschenrechtsorganisation Article 19 zusammen, die sich dem Schutz sexueller Minderheiten widmet.
Klar, wer möchte, kann Grindr mit einem Pseudonym verwenden. Getarnt ist er damit jedoch nicht, warnt Sintef-Forscher Antoine Pultier. In Kombination mit den übrigen weitergegebenen Daten sei es möglich, einzelne Nutzer zu identifizieren. Auf die Frage, warum HIV-Daten überhaupt an Dritte weitergegeben werden, sagt er, das sei wohl "auf die Unfähigkeit einiger Entwickler zurückzuführen", die einfach alle Daten verschickten, "eben auch den HIV-Status".
Der kann von Grindr-Nutzern im öffentlichen Profil in verschiedenen Kategorien angegeben werden: positiv, positiv und in Behandlung, negativ, negativ und in Vor-Risiko-Vorsorge. Bei Letzterem handelt es sich um die Präexpositionsprophylaxe, kurz Prep: gesunde, HIV-negative Menschen nehmen ein Medikament ein, um sich zu schützen. Jeffrey Klausner, der in Los Angeles zu sexuell übertragbaren Krankheiten forscht, kritisiert das, auch unabhängig von Datenschutz und Datenleaks. Er sei besorgt, "dass damit jahrelange Versuche, geschützten Sex voranzutreiben, unterlaufen werden, indem man seinen HIV-Status angibt", sagte er der Nachrichtenseite Vox.
Warum aber geben Menschen den überhaupt an, wo Online-Profile doch eigentlich auf Makellosigkeit hin getrimmt werden? Eine kurze Chat-Nachfrage bei Grindr-Nutzern ergibt verschiedene Antworten. Man wisse schneller, woran man sei, man erspare sich das Thema beim Kennenlerngespräch, man habe weniger Ängste, man könne sensibler reagieren und gezielter suchen. Einer schreibt: "So kann ich direkt ich selbst sein", ein anderer: "Wir Schwulen sind es gewohnt, unser Stigma nach außen zu tragen und auf diese Weise dagegen anzukämpfen. Also tun wir das auch mit HIV." Sie alle aber sind sich einig, dass sie selbst bestimmen möchten, an wen diese Geschichte gerät. Nur: Was im sozialen Netzwerk passiert, bleibt eben nicht im sozialen Netzwerk.