Sizilianische Mafia:Der Neffe hat genug vom Paten

Der sizilianische Reitlehrer Giuseppe Cimarosa distanziert sich öffentlich von seinem Onkel. Das ist nicht unproblematisch, denn der heißt Matteo Denaro und ist ein Superboss der Cosa Nostra.

Von Oliver Meiler, Rom

Giuseppe Cimarosa hätte auch schweigen können. Er hätte sein Leben wie bisher im Schatten der großen Öffentlichkeit leben können, ohne Medien und Politik. Mit seinen Pferden, in seiner Reitschule im sizilianischen Castelvetrano. Er inszeniert dort Theatervorführungen mit den Tieren. Sie sind seine Leidenschaft. Auf der Webseite der Reitschule beschreibt er sie mit solch poetischer Verve, dass man den Eindruck gewinnt, dass ihm die Welt der Pferde lieber ist als die Welt der Menschen. Inklusive der Welt seiner Familie, oder jener ganz besonders. Der 32-jährige Giuseppe Cimarosa, dichter Bart und sanfte Stimme, ist ein Neffe von Matteo Messina Denaro, dem Boss der Bosse der Cosa Nostra, des meistgesuchten Mafioso Italiens. Und er mochte nicht länger schweigen.

Vor einigen Tagen nahm Cimarosa in Palermo an einer Parteiveranstaltung des linken Partito Democratico teil, unerkannt und unbemerkt. Jeder, der wollte, konnte sich da ans Publikum wenden, die Veranstaltung war als offenes Forum angelegt. Tausend kamen. Cimarosa betrat die Bühne, wirkte nervös und unsicher in seinem eng geschnittenen Anzug, brachte das Stimmengewirr aber schnell zum Verstummen: "Ich bin der Verwandte eines Mafioso", sagte er, "und ich habe mich entschieden, mich gegen die Mafia aufzulehnen. Meine Mutter ist eine Cousine ersten Grades von Matteo Messina Denaro, mein Vater ist im Rahmen der Operation 'Eden' verhaftet worden. Ich komme aus Castelvetrano und leide." Drei Sätze, die sein Leben aus der Anonymität reißen sollten.

Es folgte ein berührendes Zeugnis. Er habe kein Schutzprogramm beantragt für sich, sagte er: "Wir dürfen die Angst nicht mehr als Alibi gebrauchen." Zum Schluss stand das Publikum und klatschte ihm zu. Seine kurze Rede wurde von allen nationalen Medien aufgenommen. Und Cimarosa setzte seine persönliche Öffentlichkeitsarbeit fort, als fühlte er sich endlich frei.

In einer Talkshow auf dem Fernsehsender La7 erzählte er aus seiner Kindheit in Castelvetrano, einer Provinzstadt mit 35 000 Einwohnern, wo sie immer mit einem Mix aus Anerkennung und Furcht von seinem Onkel sprachen: "Seit ich denken kann, hörte ich, Messina Denaro sei ein Krimineller höchsten Grades. Doch schlecht redete man nicht von ihm." Die Gesellschaft habe dem Boss eine Aura angedichtet, als wäre sie von ihm fasziniert, als verehrte sie ihn. "Ich aber", sagte Cimarosa, "fühlte mich immer schuldig, wenn im Fernsehen über ein Verbrechen Messina Denaros berichtet wurde, weil ich mit ihm verwandt bin." In der Familie habe das zu Streit geführt. "Man versuchte mich zu beruhigen. Meine Großmutter sagte einmal: 'Hör auf damit, sonst bringen sie dich um'."

Seine Mordopfer könnten einen ganzen Friedhof füllen

Über Verbrechen seines Onkels gab es oft zu berichten. Matteo Messina Denaro alias "Diabolik", heute 52 Jahre alt, ist ein Exponent der "neuen Mafia". Solange er konnte, pflegte er auch deren Allüren. Fern vom bäurischen Image früherer Superbosse, zeigte er sich am Steuer teurer Autos und mit schönen Frauen, trug Designermode und Luxusuhren. Im Morden dagegen war er alte Schule. Es werden ihm mehr als 50 Morde angelastet. Er selber brüstete sich einmal mit seinem langen Strafregister: "Mit meinen Mordopfern allein ließe sich ein ganzer Friedhof belegen." Schon sein Vater war ein Boss von Cosa Nostra gewesen, er brachte ihm den Umgang mit Waffen bei. Als Initiation musste der junge Messina Denaro einen Rivalen des Clans und dessen schwangere Freundin töten. Er soll die Tat kalt und mechanisch ausgeübt haben.

Seit 22 Jahren gilt er nun als "latitante", als Flüchtiger also, wechselt ständig sein Versteck und kommuniziert vor allem mit kleinen Notizzetteln, den "pizzini", die er über Vertraute verteilt. Doch das hindert Messina Denaro offenbar nicht daran, über Strohfirmen auf allen möglichen Feldern gute Geschäfte zu machen, unter anderem auch auf jenem der staatlich subventionierten Windenergie. Das Wirtschaftsmagazin Forbes zählt ihn zu den vermögendsten Kriminellen der Welt.

Sizilianische Mafia: "Ich fühlte mich immer schuldig, wenn über seine Verbrechen berichtet wurde": Cimarosa agitiert nun gegen die Mafia. Seine Leidenschaft sind Pferde.

"Ich fühlte mich immer schuldig, wenn über seine Verbrechen berichtet wurde": Cimarosa agitiert nun gegen die Mafia. Seine Leidenschaft sind Pferde.

(Foto: privat)

Die Furcht vor "singenden" Familienmitgliedern

Die Polizei verfügt nur über ein einziges Foto Denaros. Es ist aufgenommen in den Achtzigerjahren: Den Kopf hält er leicht gesenkt, die Augen sind von einer Sonnenbrille verdeckt. Und auf der Basis dieser Vorlage frischen die Fahnder alle paar Jahre das Phantombild auf, lassen den Gesuchten altern. Wie viel das bringt, ist jedoch fraglich: Es heißt, der Boss habe sein Gesicht schon mehrmals operieren lassen. Außerdem muss man annehmen, dass er Informanten aus der Oberwelt hat, die ihn warnen und schützen.

Manche halten ihn für einen Wichtigtuer. Aber er will zu den "Guten" zählen

Bringt nun das Zeugnis des Neffen die Polizei weiter? In jüngerer Vergangenheit hieß es immer wieder, die Fahnder seien nahe dran an Messina Denaro, der Boss sei umzingelt, isoliert - ein kleiner Fehler nur, und er sei geliefert. Und dann vergingen wieder Jahre. Am meisten fürchtet er "singende" Familienmitglieder. Leute wie Giuseppes Vater, Lorenzo Cimarosa. Der war einer von 40 Mitgliedern des Clans, die den Mafiajägern im Dezember 2013 ins Netz gingen. Er galt als Handlanger des Bosses, wurde verurteilt und arbeitet seither als Kronzeuge mit der Justiz zusammen - als "pentito", als Reumütiger. Das habe ihn stolz gemacht, sagt der Sohn, zum ersten Mal in seinem Leben.

Ohne Polemik kommt aber auch diese dramatische Geschichte nicht aus. Es gibt Stimmen aus der Anti-Mafia-Bewegung, die Giuseppe Cimarosa vorwerfen, er mache sich als Sohn einer Cousine des Bosses wichtiger, als er in Wahrheit sei. Er suche die Scheinwerfer der Medien statt die Amtsstuben der Polizei, er lasse sich von der Politik instrumentalisieren. Und überhaupt, fragen manche: Warum tritt er gerade jetzt auf? Es ist dies eine konfuse Zeit für die Bewegung der Kämpfer wider das Böse, die prominenten wie die anonymen, die wahren und die unwahren. Erst vor einigen Tagen flog auf, dass ein vermeintlicher Paladin im Kampf gegen die Mafia, der Vorsitzende von Palermos Handelskammer Roberto Helg, sich von einem Unternehmer schmieren lassen wollte. Die Carabinieri erwischten ihn in flagranti - 30 000 Euro lagen in einem Briefumschlag auf dem Bürotisch, ein Scheck über 70 000 bereits in seiner Sakkotasche. Helg galt davor als Saubermann, war an allen Gedenkveranstaltungen für Mafiaopfer erschienen, redete an jeder Konferenz gegen Korruption.

Oft aber verwischen die Grenzen zwischen Mafia und Anti-Mafia. Manche angebliche Vorkämpfer brauchen das Etikett als Vorwand, manche gar als Vorhang. Man erinnert sich in Italien nun an den berühmten sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia, der vor bald 30 Jahren im Corriere della Sera schon von den "Profis der Anti-Mafia" warnte.

Anti-Mafia-Kommission in Rom prüft Anti-Mafia-Bewegung in Sizilien

Es geht um viel Geld. Der italienische Staat unterstützt die Bewegung und hilft dabei nicht immer den Richtigen. In Rom wurde nun beschlossen, alle Anti-Mafia-Akteure genauer unter die Lupe zu nehmen. Oder anders: Die Anti-Mafia-Kommission des Parlaments beugt sich über die Tätigkeiten der Anti-Mafia-Bewegung in Sizilien. Da liegt gerade vieles im Argen.

Giuseppe Cimarosa erzählt, er habe einige dieser Organisationen aufgesucht, um sie um Rat zu bitten: "Ich habe mich unter Tränen bei ihnen gemeldet, ich wollte zu den 'Guten' zählen, wollte mich nützlich machen für den Kampf gegen die Mafia." Doch überall habe man ihm geraten zu schweigen. Kürzlich starb Cimarosas liebstes Pferd. Er hatte es nach seinem Vater benannt - "Lorenzo". Es starb nach einer Kolik, mysteriös schnell. Cimarosa hätte eine Autopsie verlangen können. Man hätte rasch herausgefunden, ob es eines natürlichen Todes starb oder vergiftet wurde. Als Warnung vielleicht, als Drohung von Cosa Nostra. Doch er wollte keine Autopsie. Der Zweifel, sagt er, sei ihm lieber.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: