Süddeutsche Zeitung

Sexueller Missbrauch von Kindern:"Du darfst Nein sagen und dich wehren"

Sexueller Missbrauch ist allgegenwärtig - genauso wie das Misstrauen bei Eltern und Erziehern. Doch nicht die Zahl der Täter ist gewachsen, sondern der Mut der Opfer, das oft jahrzehntelange Schweigen zu brechen. Eltern können ihrem Nachwuchs einiges mit auf den Weg geben - und ihn dann auch guten Gewissens ins Ferienlager fahren lassen.

Matthias Drobinski

Es sollte ein schönes Ferienlager werden, in Holland, auf der Nordseeinsel Ameland, mit traumhaftem Strand - für sechs Kinder aber wurde die Fahrt zum Albtraum. 39 Jungen waren im Schlafsaal des Ferienhauses Silbermöwe untergebracht, eine Gruppe der Älteren vergewaltigte die Jüngsten und Schwächsten mit Besenstielen und Flaschenhälsen; die Betreuer übersahen offenbar die Notsignale der Kinder. Ein Jahr ist es jetzt her, dass die Berichte über die Freizeit Entsetzen in Deutschland auslösten.

Fast zum Jahrestag hat Christine Bergmann, die Beauftragte der Bundesregierung zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München veröffentlicht, die unter anderem zeigt, dass Kinder und Jugendliche nicht nur Opfer sexueller Gewalt durch Erwachsene werden, sondern auch Kinder und Jugendliche sich untereinander Gewalt antun. Das DJI steht mit dieser Beobachtung nicht allein.

Der Verein "Zartbitter" in Köln beriet innerhalb von zwei Monaten "Mütter und Väter von mehr als 25 Kölner Mädchen und Jungen, die massive sexuelle Gewalt durch Kinder erlebt hatten", zudem hätten sich in Präventionsworkshops an Grundschulen mehrere Jungen und Mädchen den Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt anvertraut: "Die Kinder erlebten sexuelle Übergriffe in der Schule, im Ferienlager, in der Nachbarschaft, durch gleichaltrige Mädchen oder Jungen oder durch ältere Geschwister in der Familie", teilt der Verein mit.

Das alles ausgerechnet jetzt, wo in Deutschland die großen Ferien beginnen oder in vollem Gange sind, aufgeregte Kinder fürs Zeltlager mit der Jugendgruppe im Westerwald packen oder für die Sportfreizeit in Frankreich, wo es, zum Lohn für den Zeugnis-Endspurt, Klassenabschlussfahrten und Übernachtungsfeiern gibt, privat und in den Schulen. Mehr als 50.000 Ferienfreizeiten soll es pro Jahr in Deutschland geben mit schätzungsweise mehr als 1,5 Millionen Teilnehmern.

Nun fragen sich viele Eltern: Können wir das? Unser Kind einfach fahren lassen und darauf vertrauen, dass schon nichts passieren wird? Wenn die Rechtspsychologin Sabine Nowara von der Universität Köln beschreibt, wie selbstverständlich mittlerweile manchen Jugendlichen die Gewalt vorkommt, die sie sich einfach so in Internet-Pornos anschauen können?

Die Antwort lautet, erleichternd, wenn auch nicht ganz befriedigend: Ja, in der Regel können sie das - auch wenn ein sexueller Übergriff nie auszuschließen ist, wo Kinder einem Machtgefälle ausgesetzt sind, dem sie sich nicht so einfach entziehen können. Insgesamt aber ist die Sensibilität gegenüber sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gewachsen, vor allem, seitdem im vergangenen Jahr zahlreiche Missbrauchsfälle offenbar wurden, zuerst und vor allem in der katholischen Kirche und dann in der reformpädagogischen Odenwaldschule, in der evangelischen Kirche, in Sportvereinen, in Schulen.

Es hat ja nicht so sehr die Zahl der Täter und der Taten zugenommen. Gewachsen ist der Mut der Opfer, das - jahrzehntelange - Schweigen zu brechen, zugenommen hat die Bereitschaft von Eltern, Lehrern, Jugendleitern, Polizisten, Pfarrern, die Not der Kinder und Jugendlichen zu hören. Es ist also keine neue Bedrohung entstanden, es ist eine Bedrohung sichtbar geworden. Die ist für ein Heimkind verhältnismäßig hoch - für einen Jugendlichen, der mit den Pfadfindern ins Zeltlager fährt, deutlich geringer.

Wie nah dürfen Betreuer den Kindern kommen?

Das sehen auch die meisten Eltern so. "Es ist bei uns keine Ferienfreizeit ausgefallen, weil die Eltern fürchteten, dass ihr Kind missbraucht wird", sagt Michael Kreuzfelder, der Sprecher des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ). Allerdings hätte die Unsicherheit zugenommen, bei Eltern wie auch bei den Verantwortlichen: "Die Eltern fragen sehr genau nach, wie die Gruppenleiter ausgebildet sind, bei wem die Verantwortung liegt, welche Regeln gelten und wie sie kontrolliert werden", so der BDKJ-Sprecher.

Die Betreuer wiederum fragten sich, wie nah sie noch Kindern und Jugendlichen kommen dürften, welche Nähe sie unter den Kindern akzeptieren sollten. Wann ein weinendes Kind in den Arm nehmen - und wann wieder loslassen? Wie viel Knutschen unter Teenagern erlaubt ist? Vor allem viele katholische Priester litten unter dieser Unsicherheit, berichtet Kreuzfelder, "da sagen manche kategorisch: Ins Schwimmbad gehe ich nicht mehr mit".

Die Jugendverbände, kirchliche wie nichtkirchliche, haben auf die zunehmenden Fragen der Eltern reagiert, es gibt Verhaltensregeln für Gruppenleiter, es gibt die bundesweite Jugendleiter-Card "Juleica" für ehrenamtliche Betreuer, die auch beigebracht bekommen, sich Hilfe zu holen und Kindern zunächst einmal zu glauben, wenn sie von sexuellen Übergriffen erzählen.

Der Verein Zartbitter bietet eine Kinderrechts-Vereinbarung für Freizeiten an: "Niemand darf dir Angst machen, dich erpressen oder deine Gefühle verletzen", heißt es da. Und: "Niemand darf dich gegen deinen Willen fotografieren, dich küssen oder dich in deinem Intimbereich berühren." Du darfst Nein sagen und dich wehren, lautet das Fazit, und: "Hilfe holen ist kein Petzen!" Zu unterschreiben von Kindern, Eltern und Betreuern. Dann müssen sich nur noch alle daran halten.

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SZ vom 16.07.2011/liv
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